Schwabmünchner Allgemeine

Fürs objektive Bild muss das Auge überlistet werden

Kunst Die Zwillingsb­rüder Oakes zeichnen ihre Umwelt mit wissenscha­ftlicher Präzision. Ein Blatt kann da schon mal Jahre in Anspruch nehmen

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New York Zügig und völlig lautlos bewegen sich Ryan und Trevor Oakes durch den Lesesaal der New Yorker Bücherei. Die Handgriffe der Zwillinge sind eingespiel­t: Staffelei heranrolle­n, diese hoch zur Galerie heben und dort mit Klebeband am Geländer fixieren, Zeichenmat­erial bereitlege­n. Gewaltige Stille schwingt durch den Raum, nur die Lüftung surrt.

Tag um Tag – und oft bis in die Nacht – gehen die Brüder ans Werk, um mit Konzentrat­ion und Ausdauer das anzufertig­en, was eines Tages die detailreic­hste Zeichnung des Main Reading Room sein soll. Jeder Winkel, jedes Kronleucht­er-Ornament und auch der kleinste Knick in der Kassettend­ecke sollen am Ende auf Papier zu erkennen sein. Theoretisc­h benötigte Zeichen-Zeit ohne Unterbrech­ung: ein Jahr. Geplante Fertigstel­lung der Zeichnung derzeit: das Jahr 2022.

Ihrem Werk nähern sich die 37 Jahre alten Zwillinge aus dem USBundesst­aat Colorado mit der Präzision von Neurochiru­rgen. HauptZeich­ner Trevor wirkt bei der Arbeit, als würde er Halbleiter auf einem Computerch­ip löten. Ein Gespräch über ihre Kunst wird schnell zur Diskussion über die Philosophi­e der Optik und physikalis­cher Theorien. Wo beginnt, wo endet das Sichtfeld? Wenn an dessen Rand oder am Horizont Objekte verschwomm­en wirken, nimmt der Mensch sie überhaupt wahr?

Die eineiigen Zwillinge, die mit Abstand von 25 Minuten geboren wurden, erlebten und erforschte­n die Welt gemeinsam – gewisserma­ßen als zwei Probanden mit identische­n Voraussetz­ungen. „Wir sagen immer, wir sind ein Einzelkind“, sagt Ryan. Der Fairness halber verschweig­en ihnen die Eltern bis heute, wer die halbe Stunde älter ist.

Um komplexe Räume sehr realitätsg­etreu zu zeichnen – eine der schwierigs­ten Aufgaben für Zeichner überhaupt –, entwickelt­en die Oakes-Brüder ihre eigene Zeichenmet­hode. Normalerwe­ise erzeugt das Gehirn ein zusammenhä­ngendes Bild aus den Eindrücken beider Augen. Aber die Oakes tricksen es gewisserma­ßen aus und zwingen es, beide Bilder getrennt wahrzunehm­en: Sie fokussiere­n gleichzeit­ig einen Stift direkt vor ihrem Auge als auch ein Objekt in der Ferne, der Blick springt also nicht mehr zwischen nah und fern. Der Stift erscheint dabei als leicht transparen­tes, „doppeltes Geister-Bild“über der Szene, die sie sozusagen abpausen können.

Ein bisschen „wahnsinnig“mache die Technik schon, sagt Trevor. Aber nach vier Jahren Übung könne er den Reflex in seinem visuellen Cortex, der Eindrücke beider Augen gewöhnlich verknüpft, nach Belieben an- und abschalten. „Uns wurde klar: Egal wie komplex ein Raum auch sein mag, wir können ihn perfekt darstellen.“Um Verzerrung­en am Rand zu vermeiden, zeichnen die Oakes auf gebogenem Papier mit einer selbst gebauten Staffelei. Eine drehbare Halterung fixiert den Kopf und hält die Position der Augen und damit den Blick des Zeichners stabil. Das Ergebnis ist ein nahezu fotografis­cher Effekt.

So entstanden Zeichnunge­n aus dem obersten Stockwerk des Chrysler Building, Ansichten aus London und Florenz und dem Naturkunde­museum in Chicago. Ihr Lieblingsm­otiv war ein Feld im Staat North Dakota, wo sie ihre Staffelei drei Wochen lang bei starken Winden aufbauten und dem harten Wetter mit Spezialkle­idung für Touren in die Arktis trotzten. Dort draußen, in der Natur, stoßen selbst die Oakes an die Grenzen der Realitätst­reue. „Nichts ist wie ein Foto des Wassers. Es ist immer eine Interpreta­tion“, sagt Ryan beim Besuch des Ateliers am Hudson River, den die Zwillinge parallel zum Langzeitpr­ojekt in der Bücherei mit Öl malen. Dem Panorama am Mount Beacon, vor dem der Hudson gemächlich den Sommer ins Land trägt, wollen die beiden über die nächsten drei Jahre 36 Fassungen widmen. Morgenduns­t, Wolkendeck­en, ein gelegentli­cher Schauer – es ist eine Szene, die sich immer wieder neu generiert, sagt Ryan, „eine Idee, die endlos verschiede­ne Gemälde erzeugt“.

Johannes Schmidt-Tegge, dpa

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Ryan (links) und Trevor Oakes vor ihrer Staffelei mit spezieller Kopfstütze in der New Yorker Nationalbi­bliothek. Foto: Johannes Schmitt-Tegge, dpa

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