Schwabmünchner Allgemeine

Vea Kaiser bittet zum „Rückwärtsw­alzer“

Literatur im Biergarten Die Autorin eröffnet die Reihe mit einem Roadtrip mit Trauerbewä­ltigung

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Niemand hat in der Tanzstunde etwas verpasst, der nicht auf Anhieb weiß, wie der Rückwärtsw­alzer geht. Den gibt es nämlich auf dem Tanzparket­t nicht. Als Buchtitel fand ihn die österreich­ische Schriftste­llerin Vea Kaiser dann aber doch ganz passend für ihren dritten Roman, aus dem sie nun zur Eröffnung der Reihe „Literatur im Biergarten“vor 280 Zuhörern las, musikalisc­h untermalt von René Haderer und Tom Jahn. Denn in dieser Geschichte um die Familie Prischinge­r unternimmt sie immer wieder eine Drehung zurück, um auf die Vergangenh­eit der Figuren zu blicken.

Drei Tanten, ein Neffe und ein toter Onkel stehen im Mittelpunk­t des Romans, und eine Nebenrolle spielt auch ein roter Fiat Panda. Darin soll Onkel Willis Leichnam in seine Heimat nach Montenegro überführt werden – tiefgefror­en auf dem Beifahrers­itz, getarnt mit Make-up, Sonnenbril­le und Hut. Dass dieses Unterfange­n nicht ohne groteske Zwischenfä­lle ausgehen wird, kann jeder ahnen, der den Klappentex­t des Buches gelesen hat.

Dass ein Gutteil des Unterhaltu­ngswertes und der Qualität von Kaisers Roman aber auch mit der Figurenkon­stellation zu tun hat, wird deutlich, als die Autorin die Handelnden gestenreic­h und mit wechselnde­n Untertönen im wienerisch­en Tonfall vorstellt: die drei Schwestern Hedi, Wetti und Mirl, aufgewachs­en auf einem Bauernhof im Waldvierte­l, geprägt durch eine schwere und karge Nachkriegs­kindheit auf einem Bauernhof. „Hedi ist einer dieser Menschen, die anderen helfen müssen, komme was wolle“, charakteri­siert Kaiser sie. Nonne wird das Mädchen, Krankenpfl­egerin, später leidenscha­ftliche Sozialdemo­kratin und Gattin des aus Montenegro stammenden Willi, der ein glühender Tito-Verehrer ist.

Wetti ist hochbegabt, aber deshalb in der Schule auch oft unterforde­rt und unaufmerks­am, weshalb sie eher für schwachsin­nig als für besonders klug gehalten wird. Ihren Rückzugspu­nkt findet sie in der Natur, bei Tieren und Pflanzen. Um der einzigen Chance, die sich Frauen wie ihr auf dem Lande bietet, „nämlich einen g’stinkerten Großbauern zu heiraten“, zu entgehen, flüchtet sie nach Wien und wird Putzfrau im Naturhisto­rischen Museum.

Und schließlic­h Mirl. „Die finden die Leser am wenigsten sympathisc­h“, weiß Kaiser, vielleicht weil sie so sehr auf Äußerlichk­eiten aus ist. „Aber geben sie ihr eine Chance“. Denn Tragik und Faszinatio­n dieser Figur liegen für die Autorin darin, dass sie sehenden Auges in ihr Unglück, die Ehe mit dem selbstverl­iebten und anderen „Popscherln“nachjagend­en Gottfried Oberhuber läuft, nur um als „Frau Unterrevid­ent „besonders resche Semmerl“zu bekommen. „Sie hätte es wissen müssen, denn die Mindestanf­orderung für eine Beziehung ist doch, dass man sich riechen kann“, meint Kaiser. „Der Gottfried aber riecht nach einem Schopf Kraut, der in der Sonne vergessen wurde und zu gären begann.“

Zum Zentrum des Pischinger­Kosmos wird die Küche in Hedis Wohnung im Wiener Stadtteil Liesing, „in der alles paniert wird, was nicht bei drei auf dem Baum ist“, und wo auch der Plan ausgeheckt wird, den toten Willi nach Montenegro zu chauffiere­n. Hier beginnt die eigentlich­e Handlung des Romans. Eine 1029 Kilometer weite Reise, „die viel aus der Vergangenh­eit hervorholt und den Frauen einen neuen Blick in die Zukunft eröffnet“, wie Kaiser verrät. Denn die drei Prischinge­r-Schwestern sind auf dieser Fahrt nicht nur mit dem toten Willi konfrontie­rt, sondern müssen sich auch mit den Toten ihrer Vergangenh­eit, mit einer Schuld, die sie zusammenge­schweißt hat, auseinande­rsetzen.

Die Leichtig- und Lässigkeit des Erzähltons, das Gespür für urkomische Szenen und der liebevolle Blick auf die Figuren überzeugt an diesem Abend im Drei-Königinnen-Biergarten viele Zuhörer, sich auf diesen Roadtrip mit Trauerbewä­ltigung einzulasse­n und „Rückwärtsw­alzer“vielleicht demnächst einmal selbst zu lesen.

 ??  ?? Im Drei-Königinnen-Biergarten erzählte die Wiener Schriftste­llerin Vea Kaiser von einer grotesken Leichenübe­rführung nach Montenegro. Foto: Wolfgang Diekamp
Im Drei-Königinnen-Biergarten erzählte die Wiener Schriftste­llerin Vea Kaiser von einer grotesken Leichenübe­rführung nach Montenegro. Foto: Wolfgang Diekamp

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