Aufs Geschlecht kommt es nicht immer an
Gesellschaft Liberalere Gesetze, Promi-Outings und eine neue Lust am Demonstrieren spülten dieses Jahr erstmals über 600 Menschen auf den Christopher Street Day. Einfach ist homosexuelles und queeres Leben in Augsburg dennoch nicht
Selbstbewusst, im rotschwarzen Karohemd und ungeschminkt sitzt Sara Steffes auf der Bank am EliasHoll-Platz. Pansexuelle cis-Frau, das ist das intime Label, mit dem sich Steffes auf Nachfrage vorstellt. Es ist außerdem ein politisches Statement. Natürlich ist sie vor allem Studentin in den Fächern Anglistik und Deutsch als Fremdsprache. Außerdem will sie Schauspielerin werden, sie hat Eltern und lebt in einer Augsburger WG.
Ihre sexuelle Identität und ihr Bekenntnis dazu sind jedoch auch Alltag und so wichtig, dass sie gleich nach ihrem Umzug vergangenes Jahr in den Verein Christopher Street Day (CSD) Augsburg eintrat und sich zum Vorstand wählen ließ. In ihrer WG ist „queer“akzeptiert. Als „queer“– Englisch für „abweichend“und früher ein Schimpfwort für Schwule – bezeichnet sich, wer emotional, körperlich und meist auch politisch abseits des biologisch und kulturell definierten MannFrau-Schemas lebt.
In Weilheim, wo die 21-Jährige aufwuchs, wusste sie von ein paar anderen queeren Jugendlichen. An sich selbst fiel ihr schon früh auf, dass sowohl Jungen als auch Mädchen sie in Aufruhr versetzen konnten. „Schon in der Grundschule gab es eine besondere Lehrerin. Für die schwärmte ich nicht, ich war regelrecht körperlich in sie verliebt“, erklärt Steffes. Ihre Eltern zwangen sie als Kind in keine der beiden Schubladen. Doch ab der Pubertät wurde der Weg zur Selbstfindung schwierig. „Ich war anders als viele, wusste aber nicht wieso. Es gab auch keine Orte, keine offenen Organisationen, in denen ich mich auf die Suche begeben konnte. In der Weilheimer Öffentlichkeit waren homound alle anderen sexuellen Orientierungen ein großes Tabu“, erklärt die 21-Jährige.
Mit 19 dachte Steffes erst, sie sei vielleicht bisexuell. Aber für sie spielte das Geschlecht gar keine Rolle. Das war verwirrend, erklärt Steffes. Bis ihr ein Bekannter von Pansexualität erzählte. Sie war froh, dass es einen Begriff gab, den sie gleich als passend für sich empfand. „Ich verliebe mich in Menschen, das Geschlecht ist dabei offensichtlich egal.“Cis bezeichnet Menschen, deren Geburtsgeschlecht mit der sich später entwickelnden Identität übereinstimmt. Steffes sagt: „Ich wurde als Mädchen geboren und fühle mich als Frau.“Für manche Empfindungen und Seelenbeschreibungen fehlen noch die Worte. Aber Steffes ist entwaffnend offen. Sie hat
nachgedacht, ihre Antworten kommen schnell, aber nicht unüberlegt. Reflektiert sind Johannes Meyer, 28, und sein 20-jähriger Verlobter auch, leben tun sie extrovertiert. Der Koch und der Lokführer gehen auf Fetisch-Partys und laufen schon mal in Latex, Leder und Hundemaske über die Maxstraße. Nicht nur im Dunkeln. „Die Leute sprechen uns an, wohin wir denn gehen, und wollen mit“, sagt Meyer lachend. Die beiden fühlen sich kaum eingeschränkt in ihrem Lebensentwurf. Die Pferseer Nachbarn hätten sich gewöhnt, man kenne sich. Nur Schwulen- und Lesben-Klubs fehlten. Wie die ganze Szene trauern sie dem früheren „Fegefeuer“und dem „Davids“nach.
Dass es jetzt nur noch schwulenfreundliche, aber keine expliziten Homosexuellenbars mehr gibt, bedauern auch Gia la Rue, 26, und sein Freund Menorah, 20. Die beiden sind Dragqueens. Diese Figuren in einem Outfit aus Maske und Strapsen sind Show. Für Männer – schwul oder nicht – und für Männer wie Menorah, die sich als Frau definiert, aber noch keine Therapie begonnen hat. Der CSD 2019, der erste seit 2002, als die Stadtverwaltung
die Veranstalter noch mahnte, keine Nackten auftreten zu lassen, ist für beide ein Muss. Gut sei das Straßenfest vor allem für junge Leute, die hier einfach mal unbeobachtet in der Menge etwas ausprobieren können.
Tatsächlich nahmen dieses Jahr beim Pride-Marsch durch die Stadt und am Programm auf dem Königsplatz auffallend viele junge Menschen teil. „Dass der CSD in diesem Jahr von null gleich 600 Menschen auf die Beine bringt, zeigt, dass der Bedarf, aber auch die Solidarisierung groß sind“, findet Gia la Rue.
Jamie Heine*, 24, ist ein Transmann. Er studierte Maschinenbau, jobbt derzeit als Verkäufer und tritt demnächst eine Stelle als Ingenieur an. In der Freizeit engagiert er sich bei Queerbeet, einem 2008 gegründeten Verein für schwule, lesbische, bisexuelle und transidente Jugendliche zwischen 14 und 27 Jahren. „Trans*Beratung“gibt es hier seit zwei Jahren. „Der Bedarf an solch offenen Räumen wächst mit der Öffentlichkeit für diese Themen“, hat er beobachtet. Der Verein, der sich im Zentrum für Aidsarbeit Schwaben (ZAS) trifft, wünsche sich deswegen eine eigene Lokalität, möglichst auch eine kontinuierliche Fiviel
nanzierung mit Aussicht auf eine Teilzeitstelle.
Heine hätte sich so eine Anlaufstelle früher selbst gewünscht. Mit der Pubertät begann bei ihm mehr als der übliche Hormonsturm. Er wurde depressiv, wie er heute weiß. Damals war er einfach dauertraurig. Zum Glück gab es Internet. Mit 14 begann er nach Infos zu suchen, fand eine Therapeutin, mit der er seine Empfindungen durchpflügte und den Alltag bewältigen konnte. Die Erkenntnis kam erst mit einem Video, da war er schon 19. Ein Mann beschrieb dort schwere innere Konflikte, wie auch Jamie sie kannte – als Junge im Körper eines Mädchens. Jetzt nimmt der 25-Jährige seit zwei Jahren das Hormon Testosteron.
Anfangs traute er sich noch nicht auf die Herrentoiletten, inzwischen ist er auch äußerlich ein Mann. Barthaare, die Stimme tief, der Gang sportlich. Die Operation zur Geschlechtsangleichung spart er sich: „Zu viel Risiko.“Welches Geschlecht bevorzugt er bei der Partnerwahl? „Da bin ich nicht festgelegt“, erklärt der Ingenieur cool. Die Chemie müsse eben passen.
Hormoneinnahme und operative
Geschlechtsangleichung sind nicht mehr rückgängig zu machen. Dass die Krankenkassen deswegen psychologische Begleitung zur Bedingung machen, befürwortet er. Aber dass Familiengerichte für die Personenstandsund Namensänderung Preise in der Höhe eines Gebrauchtwagens verlangen, findet er frech. Ihn selbst kostete die Änderung im Pass 3000 Euro. „Wieso dürfen ein paar Buchstaben so viel Geld kosten?“Mainstream werden Menschen wie Heine erst, wenn solche Zahlungen und andere politische und rechtliche Debatten um ihre ganz persönlichen Identitäten nicht mehr nötig sind. *Name geändert