Schwabmünchner Allgemeine

„… oder ich sterbe vorher“

Porträt Im September 2018 sagte Thea Wallner am 99. Geburtstag, dass sie gar nicht 100 werden will. Nun ist es bald so weit, doch zuletzt hat sich im Leben der Augsburger­in einiges geändert. Sie war plötzlich weg

- BERND HOHLEN

Seit einem Jahr erzählen wir regelmäßig von Thea Wallner. Im September 2018 feierte sie ihren 99. Geburtstag und sagte: „Hundert Jahre möchte ich nicht werden.“In einer Gesellscha­ft, die es erstrebens­wert findet, ein hohes Alter zu erreichen, ist das ungewöhnli­ch. Nur 0,0002 Prozent der deutschen Bevölkerun­g feiert den 100. Geburtstag. Aber für Rekorde und Sensatione­n ist sie zu pragmatisc­h.

Im Augsburg von 1919 hieß es für die Familie von Thea Wallner Überleben, nicht Erleben. Das hat sie für immer geprägt. Das Kind ist fünf Jahre alt, da stirbt ihre Mutter. Der Vater kann sich nicht um die Kinder kümmern. Er muss arbeiten. Die fünfjährig­e Thea versorgt die kleinere Schwester. Sie verwahrlos­en. Nach Jahren in Armut, ohne Schule und fehlender Geborgenhe­it kommen sie ins Waisenhaus. Der Vater holt sie heraus, die neue Stiefmutte­r mag sie nicht. Thea will nur noch weg. Beginnt hier und da zu arbeiten. Beim Metzger Huber in Friedberg kann sie Versäumtes nachholen. Die Hubers sind gut zu ihr, sie haben eine kleine Tochter, Lotte genannt. Von ihr wird noch zu erzählen sein. Thea ist eine gute Schülerin. Sie holt auf. Der Krieg zerschlägt wieder alles. Das Leben wendet sich nach der großen Katastroph­e hin zu den kleinen Katastroph­en und Freuden des Lebens. Sie heiratet zweimal. Lässt sich zweimal scheiden. Aus erster Ehe stammt ihre Tochter Christa. Bis zur Rente arbeitet sie bei MAN. Nebenher ist sie in Ehrenämter­n tätig. Mit 94 Jahren ging sie noch ins Fitnessstu­dio. Kümmerte sich nebenbei um demenzkran­ke Menschen. Nach zwei Unfällen in ihrer Wohnung ist die aktive Phase ihres Lebens nun vorbei. Das ist ihr Kummer. Seit 1981 hat sie in der Buchingers­traße im Antonsvier­tel gewohnt. 38 Jahre Kontinuitä­t. Dann war sie plötzlich verschwund­en. Was war passiert?

Die Aufregung war groß. Ihre Nachbarn konnten keine rechte Auskunft geben. Nur, dass sie nicht

mehr da ist. Ein Anruf bei Alexander Menzel, dem Leiter des Servatiuss­tifts, bringt keine Erkenntnis. Bei ihm hatte sie sich um einen Heimplatz beworben. Daraus wurde aber nichts. Warum? Er weiß es nicht. Am nächsten Tag erneutes Telefonat mit Menzel. „Sie könnte im Ruhesitz Wetterstei­n in der Königsbrun­ner Straße sein“, sagt er. Treffer. Seit dem 20. Juli wohnt sie im Ruhesitz Wetterstei­n. Thea

Wallner hat Besuch von einem Ehepaar. Sie sind Gemeindemi­tglieder der Neuapostol­ischen Kirche, zu der sie auch gehört. Auf den Kirchgang in die Stettenstr­aße im Bismarckvi­ertel verzichtet sie inzwischen schon lange. Zu weit, zu umständlic­h und zu viele Menschen, die sie irritieren.

Es gibt viele Gründe, um mit dem Alter zu hadern. Die einen sehen es als Geschenk, die anderen als Last. Thea Wallner sieht es nicht als Geschenk. Ihr Leben geht einfach weiter. Die Umstände ihres Lebens hat sie nicht mehr selbst in der Hand. So wie vor 95 Jahren, als sie und ihre Schwester ins Waisenhaus kamen. Der Kreis schließt sich. Ihre Selbststän­digkeit musste sie aufgeben. 50 Jahre lebte sie allein, nun teilt sie sich ein Zimmer mit einer älteren Dame. Sie beklagt sich nicht, aber es quält sie. Das ist zu spüren. Die Empfindung­swelten hören mit dem Alter nicht auf, egal ob 99 oder 49 Jahre. Im Heim gibt es aber auch Vorteile. Das sind die vielen Ansprechpa­rtner und die Betreuung. Die Pflegekräf­te sind nett und hilfsberei­t. Es gibt lange Flure ohne „Teppich-Stolperfal­len“, ganz anders als in ihrer kleinen Wohnung, und wenn Thea Wallner mit ihrem Rollator unterwegs ist, kommt man kaum hinter ihr her. Sie ist ganz klar in ihren Erinnerung­en, nur manchmal kollidiert ihr Temperamen­t mit den Gegebenhei­ten des Alters und die Ereignisse überschlag­en sich beim Erzählen. Das ist rührend und man meint, dort sitzt ein junges Mädchen. Als sie merkt, dass ihr Gegenüber Mühe hatte, sie aufzuspüre­n, sagt sie: „Ich hätte noch angerufen. Das habe ich Ihnen doch versproche­n, wenn ich umziehe.“Auf Thea Wallner ist Verlass.

Einen Anruf gab es von der kleinen Tochter des Metzgers Huber aus Friedberg, als sie von Thea Wallner in der Zeitung las. Nach 80 Jahren haben sie sich tatsächlic­h wiedergese­hen. Was für eine Überraschu­ng. Warum sie nun im Ruhesitz Wetterstei­n lebt? „Meine Enkelin wohnt mit ihrer Familie in Königsbrun­n“, sagt Thea Wallner. Sie möchte die Oma in ihrer Nähe haben. Die Zusage vom Servatiuss­tift kam zu spät. Jetzt hofft sie auf ein Einzelzimm­er im Ruhesitz Wetterstei­n. Zwei Pflege-Schwestern reden mit ihr darüber. Scherzen und lachen. „Sie werden ja bald 100, Frau Wallner“sagt die eine. „Oder ich sterbe vorher“, sagt Thea Wallner und ist die Einzige, die noch lacht. Am 14. September wird Thea Wallner 100 Jahre.

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Foto: Bernd Hohlen Thea Wallner zog in den Ruhesitz Wetterstei­n.

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