Aufbruchstimmung in Oberhausen
Sommerserie Jetzt geht’s zur Sache: Ein ganzer Stadtteil steht auf dem Prüfstand. An unseren mobilen Schreibtischen bläst aber niemand Trübsal, stattdessen hören wir Liebeserklärungen und entdecken Quartiers-Stolz
Diskussionen können ermüdend sein – zumal, wenn alle paar Minuten das Rumpeln eines Lastwagens dazwischenfährt und das Mineralwasser in den Plastikbechern warm geworden ist. Doch dieses Miteinanderreden hier unter freiem Himmel hat eine belebende Wirkung. An unseren mobilen Schreibtischen vor der Werner-Egk-Grundschule hat sich eine Art Straßenplenum versammelt. Über Oberhausen haben sie geredet, debattiert über den Haller-Platz, die Drogenszene, Streetworker, Wohnqualität, Altersarmut, Flucht von Familien mit Kindern in andere Sprengel. Ein paar Meter entfernt wird gerade die alte Kneipe „Endstation“abgerissen. In Oberhausen aber herrscht jetzt Aufbruchstimmung. Manifeste, Appelle, ja: Liebeserklärungen an den Stadtteil hallen über den Platz. Ein trotziger Quartiers-Stolz. Als würden Schlagzeilen wie jene, die vor 30 Jahren in der Zeit erschienen war und die an diesem Dienstag zitiert wird – „Die gute Stube und ihr Abort“– noch immer nachwirken. „Das Image von Oberhausen ist schlecht. Aber warum? Das regt mich so auf!“, erklärt Herta Goßner.
„Oberhausen ist eine Besonderheit. Es hat eine sehr große Vitalität und Direktheit, Ehrlichkeit. Es ist keine Idylle. Aber dieser Stadtteil hat alles, um sich ins 21. Jahrhundert weiterzuentwickeln. Danke, dass man sich hier verlaufen kann – weil so viel da ist in Oberhausen.“Das sagt Dr. Alexander Jungmann, Soziologe, der mit seinen Augsburger Studenten in mehreren Projekten diesen Stadtteil erkundet hat.
Einiges daraus stellen Jungmann und die Studenten Stefanie Sander und Niklas Krüger bei „Kultur aus Oberhausen“vor. Im Fokus der jungen Wissenschaftler: der Helmut-Haller-Platz, die Konflikte, die dort entstehen. Sie haben wochenlang mit Drogenabhängigen und Alkoholsüchtigen gesprochen, mit Streetworkern, Anwohnern, Polizeibeamten, sich auf den Ort und sein Milieu eingelassen. „Die Leute dort sind Teil von uns, die kann man nicht verstecken“, sagt Stefanie Sander. „Alle weg, alle weg und noch mehr Polizei hinschicken: So einfach kann es nicht sein“, meint Niklas Krüger. „Wir müssen uns fragen: Wie wollen wir zusammen mit und auf diesem Haller-Platz leben?“.
Einigkeit herrscht darüber, dass der Süchtigentreff gut angenommen wird, ein Erfolg ist. „Die Arbeit muss besser ausgestattet werden, ohne dass das Streetwork leidet“, sagt Alexander Jungmann. Thomas Lidel, der junge Vorsitzende der CSU Oberhausen, stimmt zu: „Wir brauchen mehr Stunden und mehr Personal, der Treff bleibt sonst nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“
Schulleiterin Claudia Kirsch, geboren in Oberhausen, sagt: „In Oberhausen verändert sich etwas zum Positiven. Es gibt ein Wir-Gefühl!“, ruft sie in die Runde: „Ich wünsche uns, dass wir jedem erzählen, wie toll unser Stadtteil ist!“Applaus an den Schreibtischen! Gut zwei Dutzend Interessenten hat die Rektorin am frühen Nachmittag durch die Schule geführt. Unter ihnen auch Ingrid Brein. „Da oben haben wir gewohnt, in der Mädchenschule“, deutet sie auf ein Dachfenster. Ingrid Breins Oma und später andere Verwandte waren von 1948 bis in die 1960er Jahre Hausmeister in der Schule. In der Schule wohnen – wie ist das für ein Kind? „Herrlich“, sagt Brein. Aber sie sei ein wildes Kind gewesen, die Direktorin habe sie oft über Zäune und auf Bäume steigen sehen – „das gab viel Strafarbeiten“. Der kürzeste Schulweg Anfang der 1950er Jahre. „Aber ich musste für 50 Pfennig die Stiegen in der Schule von oben bis unten kehren.“
An dieser Schule lässt sich wie unter einem Vergrößerungsglas zeigen, was gesellschaftlicher Wandel bedeutet. Gegründet wurde sie 1892 – als Mädchenschule. Es unterrichteten dort die Klosterschwestern von Maria Stern. Die heutige Rektorin Claudia Kirsch, die die Pforten der Schule an diesem Dienstag öffnet, sagt, dass dem Bürgermeister Tauscher und dem Pfarrer Mahler die Oberhausener Mädchen zu wild gewesen seien – wie Jungen. Und jetzt müssten sie in einer Mädchenschule wieder zu Mädchen werden.
Deshalb sind die Oberhausenerinnen an diesem Nachmittag in der Überzahl. Bis 1969 war die Schule (bis auf eine kurze Zeit nach dem Krieg) Mädchen vorbehalten, zum Beispiel Christa Niklaus und Monika Raffalt, beide hatten 1956 ihren
ersten Schultag in der Mädchenschule an der Hirblinger Straße, wie die Werner-Egk damals noch hieß. Was beiden in den letzten Jahren gelungen ist: Ihren kompletten Grundschuljahrgang zu Klassentreffen zusammenzutrommeln. Übrigens, das nächste findet am 12. Oktober statt. Damals gab es so gut wie keine Migrantenkinder an der Schule, heute hat sich das gewandelt, kommen die rund 400 Schüler aus 29 verschiedenen Nationen, wie Claudia Kirsch berichtet – Oberhausen, der Multi-Kulti-Stadtteil.
Wie Oberhausen-Liebe letztlich auch in Oberhausen-Flucht umschlagen kann, erzählt Dorthe Teßarek, die zu ihrem Studium von Norddeutschland nach Augsburg gezogen ist, genauer an den Rand von Oberhausen, „weil das der
spannendste Teil von Augsburg war“. Damals waren das einige Studenten, die sich bewusst für Oberhausen entschieden, weil es dort diesen großstädtischen Flair gab. Als dann aber Kinder kamen und die Kinder in die Schule mussten, war für viele ehemalige Mit-Studenten Oberhausen nicht mehr gut genug. „Wenn wir uns jetzt treffen wollen, fahre ich nach Haunstetten oder nach Göggingen“, sagt Teßarek, die weiterhin Oberhausen die Treue hält.
Über zu wenig Kinder kann sich die Rektorin Kirsch nicht beklagen. Die Schülerzahl wächst stetig, deshalb befindet sich die Grundschule in permanenter Erweiterung, im kommenden Schuljahr wird der neue Speisesaal eingeweiht. Ernst Mair kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er hatte als Junge ein ziemlich enges Verhältnis zur Mädchenschule, weil er mit dem Hausmeister-Sohn befreundet war. Das Treppenhaus im alten Schulgebäude kennt er in- und auswendig. „Da mussten wir im Winter immer runter und die Kohlen nachlegen.“
Im Neubau, der 1994 eingeweiht worden ist, gibt es auch Kunst zu sehen. Schulleiterin Kirsch erzählt, dass sich die Wandgemälde mit Werken des Komponisten Werner Egk, dem zuletzt äußerst umstrittenen Namenspatron der Schule, auseinandersetzen. „Mit manchen Bildern haben unsere Schüler Probleme“(etwa der Sensenmann) – „bei anderen funktioniert es gut.“– etwa dem Löwen und der Maus, über die Egk 1931 eine Kinderoperette komponiert hat.
Selbstverständlich ist der Nachmittag auch eine Tauschbörse für Erinnerungen. „Weißt Du noch? Damals die Frau Harzer.“Eine ehemalige Lehrerin ist tatsächlich da: Eva Seiler, die von 1954 bis 1964 an der Mädchenschule unterrichtet hat und für ein Erinnerungsfoto mit den ehemaligen Schülerinnen in Schönschrift das Datum auf die Tafel schreibt: 6. August 1919 – „Ups“– Vergangenheit, Gegenwart, alles ist gleichzeitig da. Und da ist dann auch Dr. Marianne Schuber, die Frau, die das historische Oberhausen erforscht und in mehreren Büchern beschrieben hat. Schuber betreibt das legendäre „Museumsstüble“– ein Treffpunkt im Stadtteil. Am ersten Dienstag war viel von ihr die Rede – als die „Schuber-Schüler“ihr Reverenz erwiesen. Nun ist sie selbst gekommen, die Frau, die vom Oberbürgermeister mit „Grüß Gott Frau Oberhausen!“begrüßt wird. Auch Alexander Jungmann und seine Studenten kennen das Museumsstüble und die „Frau Oberhausen“.
Alfred genannt „Fredl“Wolgschaft ist in gewissem Sinne ein „Herr Oberhausen“. Geboren 1933, lebt er seit 86 Jahren im Stadtteil. 40 Jahre hat der Fredl bei der MAN gearbeitet, hat als „Revolverdreher“angefangen, nachdem er zuvor eine Schneiderlehre absolviert hatte, weil seine Mütter als „Störnäherin“einst von Haus zu Haus gezogen war. Wolgschaft erinnert sich an die Jahre, als die US-Soldaten durch die Oberhauser Kneipen zogen. „Die weißen Amerikaner waren im Goldenen Engel, die schwarzen Amerikaner im Jägerhaus“. Beigestert erinnert er sich an ein Lokal namens „Der bunte Koffer“, in dem es Tanzveranstaltungen gab – und Jazz-Jam-Sessions am Sonntagnachmittag. „Das war ganz toll!“, schwärmt er.
Früher! Auch Professor Hans Frei, Ex-Direktor der schwäbischen Bezirksmuseen, lebte als Kind in Oberhausen, wuchs im Ulmenhof auf. Er zeigt Fotos, erinnert sich an die Leere vor der Kirche Sankt Martin, damals in den 1940er Jahren. Es war die Zeit, da Kurt Reisch binnen zwei Jahren sechsmal die Schule wechseln musste. Bombenschäden, Evakuierungen… „Eine Odyssee“, sagt Reisch. Er trifft sich bis heute einmal im Monat mit alten Schulkameraden – „wir reden über die alten Zeiten“. Über Helmut Haller zum Beispiel, der ja Fahrer bei der MAN gewesen sei, „aber immer freigestellt war.“Helmut Haller: Mit ihm schließt sich der Kreis an diesem zweiten Dienstag, an dem so ernsthaft über den Helmut-Haller-Platz gesprochen wird.
Zum Schluss sagt eine Frau, die schon oft zu uns gekommen ist, aber immer noch nicht mit dem Namen genannt werden will, dass Oberhausen für sie ein wildes Biotop sei, das sie stark an ihre Heimat Duisburg erinnere. „Oberhausen, das ist von unten gewachsen, hier gibt es noch Geheimnisvolles zu entdecken.“Oh ja! Das ist ein Grund, weshalb wir diesen Sommer in Oberhausen verbringen, nächsten Dienstag wieder.
Die Leute am Haller-Platz sind ein Teil von Oberhausen Als die US-Soldaten durch die Oberhauser Kneipen zogen