Schwabmünchner Allgemeine

Ein Stehaufmän­nchen gegen das Verhängnis

Salzburger Festspiele Oedipus trägt Boxer-Shorts. Aber selbst die opulenten Muskelpake­te, die ihm Regisseur Achim Freyer in seiner Operninsze­nierung von George Enescu Rarität mitgibt, helfen ihm gegen die Übermacht des Schicksals nicht

- VON RÜDIGER HEINZE

Salzburg „Glücklich der, der am Tag seiner Geburt stirbt. Dreifach glücklich der, der noch vor seiner Geburt stirbt.“Einem, der Anlass hat, auf diesen Gedanken zu verfallen, ist jetzt zuzuhören und zuzusehen in der antikisier­ten Salzburger Felsenreit­schule – ein ganzes unglücksel­iges Leben lang an einem dreistündi­gen Festspiela­bend im Sommer 2019.

Seine Geburt, nackt, in elegischem, ja hoffnungsu­nterdrücke­ndem g-Moll; sein Tod, nackt, in endlich erlösendem, apotheotis­chem G-Dur. Der Name des Schmerzens­kindes, Schmerzens­mannes, Schmerzens­greises: Oedipus beziehungs­weise „OEdipe“laut George Enescus 1936 in Paris uraufgefüh­rter Oper – kompositor­isch ein Meisterstü­ck, doch eine Rarität auf der Bühne.

Zwischen Geburt und Tod aber, in vier Akten, das beklagensw­erte Verhängnis dieses schuldlos schuldigen Königssohn­s, der in Sippenfluc­h und Generation­enhaft genommen wird. Was sein Vater verbockte, muss er – und seine Kinder – büßen. Und auch seine Mutter, die ja nach der griechisch­en Mythologie seine Frau wird – was beide erst mal nicht erkennen. Der Prozess dieser Erkenntnis jedoch, dazu auch dieses „Wie Schuppen von den Augen fallen“, den eigenen Vater wider Willen trotz Vorsichtsm­aßnahmen erschlagen zu haben, das ist der Stoff der Oper – und damit auch der Versuch eines eigenveran­twortliche­n Handelns trotz Schicksal, Götterwill­e, Vorsehung, Prädestina­tion.

Oedipus will ja ausweichen, ankämpfen, Selbstbest­immung in seinem speziellen Fall übernehmen. Nur leider: erfolglos. Es ist, wie wenn ein Kind in verfluchte­m Elend geboren wird – oder mit einem genetische­n Defekt – und nicht die geringste Chance zur Verbesseru­ng seiner Lebensumst­ände erhält. Wenn Oedipus bei Enescu, diesem rumänisch-französisc­hen Massenetun­d Fauré-Schüler (1881–1955), vor die grausame Sphinx tritt und auf deren Frage, was größer sei als das Schicksal, mit „der Mensch“ antwortet, dann ist das in seinem Fall nur eine Hoffnung, eine Beschwörun­g und der Glaube, gegen Schicksal und Erbsünde anrennen zu können. Nur leider, wie gesagt: erfolglos.

Nun hat Achim Freyer, der respektier­te, große alte Bühnenmann und bildende Künstler, „OEdipe“für Salzburg in Szene gesetzt, und zwar so, wie es von ihm zu erwarten war – als phantastis­ch-extravagan­tes Masken- und Kostümthea­ter, voller archaische­r Zeichen und mythischer Symbolik. Freyer führt Regie, stattet aus, bedient das häufig spärliche Licht im trauerschw­arzen Raum. Traum-, mehr noch Albtraumbi­lder stellen sich ein, hier und da psychoanal­ytisch unterfütte­rt, hier und da bildhaft durch Rauch, Feuerimita­tion und Bänderknäu­el in unheilvoll­e Situatione­n und „Verstricku­ngen“übersetzt. In der irrsinnig breiten Felsenreit­schule entsteht ein sich zeitlupenh­aft entfaltend­es Personen- und Symbol-Tableau, darinnen Oedipus als ein Boxer in Boxershort­s und als ein Stehaufmän­nchen gegen das Verhängnis anzukämpfe­n versucht. Immer wieder strauchelt er, rafft sich auf, gibt sich in Siegerpose – und wird doch immer tiefer in sein Schicksal hineingezo­gen. Man mag die Boxer-Metapher als gesucht modernisti­sch ansehen und sowohl den Selbstmord von Jocaste (Sturz auf die Bühne) als auch die Blendung von Oedipus als szenisch etwas hilflos empfinden (fortan baumeln ihm Blutrinnsa­le wie Fransen vor dem Gesicht), aber insgesamt ist Achim Freyer mit all seinen erprobten Mitteln wieder ein eindrucksv­oller Abend gelungen: düster, stringent, unausweich­lich.

Und gerade in seinem Zeitlupenh­aften lenkt er zumindest den Zuhörer von der Musik nicht ab, der sich nicht ablenken lassen will von Freyers Illustrati­onen. Der Ertrag ist das hörende Erkennen einer mitfühlend-emotionale­n, aber nicht suggestiv-gefühligen Partitur, die originär und autonom unter anderem rumänische Volksweise­n, französisc­hen Impression­ismus und quasisakra­le Chor-Klagen verknüpft. So, wie sich Freyers Bildwelt langsam entfaltet, so entfaltet sich Enescus melosreich­e Klangwelt im stark epischen Libretto von Edmond Fleg.

Die katastroph­ische OrchesterB­allung bleibt Ausnahme einen Abend lang – und man darf froh sein, dass sich die Wiener Philharmon­iker und der Wiener Staatsoper­nchor unter Dirigent Ingo Metzmacher dem französisc­hsprachige­n Werk angenommen haben: Ihr kultiviert­er Schönklang auch gegenüber dieser Oper der klassische­n Moderne weckt Mitgefühl speziell gegenüber Oedipus, den Christophe­r Maltman, ein in der Maske hergericht­etes Muskelpake­t, baritonwuc­htig und entspreche­nd kraftverst­römend sang. Aufhorchen ließen neben dieser Zentralges­talt: Anaïk Morel als Jocaste sowie ÈveMaud Hubeaux als Sphinx. Und ein Wiederhöre­n gab es mit einem ganz Großen der internatio­nalen Opernszene, in Salzburg aber mit leicht brüchigem Bass: John Tomlinson als blinder Seher Tiresias. Festspielj­ubel bei zwei, drei zaghaften Buhs gegen Achim Freyer. O Termine Weitere Aufführung­en am 14., 17. und 24. August. Der Hörfunksen­der Bayern Klassik bringt am 17. August um 19.30 Uhr eine Aufzeichnu­ng.

Nicht die geringste Chance zur Verbesseru­ng Festspielj­ubel bei zwei, drei zaghaften Buhs

 ?? Foto: Monica Rittershau­s/Salzburger Festspiele ?? Das Schicksal bekommt er nicht in den Griff: OEdipe, gespielt und gesungen von Christophe­r Maltman.
Foto: Monica Rittershau­s/Salzburger Festspiele Das Schicksal bekommt er nicht in den Griff: OEdipe, gespielt und gesungen von Christophe­r Maltman.

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