Spanien in der Krise
In Spaniens Metropole Madrid sind schon mehr als 3000 Menschen am Coronavirus gestorben. Es gilt eine strikte Ausgangssperre, selbst Spaziergänge sind verboten. Jetzt kommt die nächste Verschärfung. Und ein Arzt sagt: Wir werden ohne Waffen in den Krieg g
In Spaniens Hauptstadt Madrid sind schon mehr als 3000 Menschen am Coronavirus gestorben. Es gilt eine strikte Ausgangssperre, selbst Spaziergänge sind verboten. Jetzt kommt die nächste Verschärfung. Mehr lesen Sie auf der
Madrid „Braucht jemand Hilfe? Ich kaufe für Sie ein und gehe mit Ihrem Hund Gassi“, steht auf einem Zettel, der an der Haustür klebt. In Notstandszeiten wächst die Solidarität mit den Nachbarn. Und eins ist klar: In Spanien mit seinen 47 Millionen Menschen herrscht Notstand.
„Das Land befindet sich in der schlimmsten Situation seit dem Bürgerkrieg“, beschreibt Regierungschef Pedro Sánchez die Lage mit apokalyptischen Worten. Jener Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1939 hinterließ hunderttausende Tote auf den Schlachtfeldern. Nun also ein neuer Krieg. So sehen sie das hier. Dieses Mal ist es ein Krieg gegen einen unsichtbaren Feind. Er nennt sich Sars-CoV-2.
Das spanische Zentrum der Epidemie ist Madrid. Hier verzeichnen die Behörden schon mehr als 3000 Corona-Tote. Landesweit sind allein von Samstag auf Sonntag 838 Menschen am Virus gestorben, der bisher höchste Anstieg binnen eines Tages. Inzwischen patrouillieren Soldaten in der Hauptstadt. Sie sollen helfen, die Ausgangssperre zu überwachen, die seit zwei Wochen gilt und gerade bis Ostersonntag verlängert wurde. Das Militär transportiert sogar Leichen, weil die Bestatter überlastet sind.
Ganz Spanien steht unter Hausarrest. Wie lange hält man das ohne Lagerkoller durch? Kein Treffen mit Freunden. Kein Joggen, um sich in Form zu halten. Nicht einmal Spaziergänge sind erlaubt. Die Tore des riesigen Retiro-Parks, Madrids berühmte grüne Lunge mit jahrhundertealten Bäumen, sind geschlossen. Da beneidet man Deutschland, wo die Bürger trotz der strengen Ausgangsbeschränkungen wenigstens noch an der frischen Luft spazieren gehen oder Sport treiben können.
Die 3,3 Millionen Einwohner Madrids dürfen nur noch aus absolut triftigen Gründen vor die Tür. Und dann auch nur allein. Der Kauf von Lebensmitteln im nächstgelegenen Supermarkt und das Gassigehen mit dem Vierbeiner gelten als triftig. Wahrscheinlich gehen deswegen sogar spanische Männer, die bisher zu Hause lieber die Füße hochlegten, plötzlich einkaufen. Seit die Epidemie viele zur Arbeit im Homeoffice gezwungen hat, ist der Weg zum Supermarkt für sie die einzige Möglichkeit, um sich die Füße zu vertreten. Von diesem Montag an können die meisten gar nicht mehr ins Büro oder in die Fabrik. Alle Beschäftigten, die keine unbedingt notwendigen Arbeiten verrichten, müssen von nun an zwei Wochen zu Hause bleiben. Die nächste Verschärfung also.
Der kleine Shopping-Ausflug ist auch nicht unbedingt ein schönes Erlebnis. Erst muss man Schlange vor der Tür stehen, weil der Wachmann die Kunden nur in kleinen Gruppen einlässt. Dann spritzt eine Angestellte Desinfektionsgel auf die Hände und befiehlt: „Gummihandschuhe anziehen!“Auf einem großen Schild steht: „Bitte halten Sie zu anderen Menschen 1,50 Meter Sicherheitsabstand.“
An den ersten Tagen des Ausnahmezustands sah man ganze Gänge mit leeren Regalen und Kühltruhen. Kein Fleisch, kein Obst, kein Reis, keine Nudeln. Auch Toilettenrollen waren tagelang ausverkauft. Deutschen kommt das bekannt vor.
Die Versorgungslage hat sich inzwischen gebessert. Die Kühl- und Vorratsschränke der Familien sind randvoll. Man weiß ja nie. Nur Tiefkühl-Pizza ist weiterhin kaum zu bekommen. Der italienische Hefefladen hat der Paella, Spaniens Nationalgericht, den Rang abgelaufen. Die Reispfanne, die typischerweise zeitaufwendig im Freien und im großen Kreis zelebriert wird, ist der kulinarische Verlierer dieser kollektiven Quarantäne.
Sie nicht den Bon“, mahnt die Frau an der Kasse zum Abschied. „Den brauchen Sie, wenn Sie auf der Straße kontrolliert werden.“Die Sicherheitskräfte drücken kein Auge zu. Wer ohne triftigen Grund draußen erwischt wird, dem drohen mindestens 100 Euro Buße. Der Radiosender RNE meldet: „In Madrid wurden bereits 25 000 Strafgelder wegen Verstößen gegen die Ausgangssperre verhängt.“
Derweil steigt und steigt die Zahl der bestätigten Corona-Fälle. Spanien ist nach Italien das europäische Land mit den meisten Infizierten. Und Madrid, wo die Epidemie am schlimmsten wütet, wird zunehmend zur „Stadt des Todes“, wie eine Tageszeitung titelte.
Im Fernsehen sind Bilder vom Eissportpalast zu sehen. Mehrere Transporter fahren hintereinander in die Tiefgarage. In der Kabine der roten Fahrzeuge sieht man Männer in weißen Schutzanzügen. Es sind Soldaten der Katastrophenschutzeinheit UMA. Sie bringen Plastiksäcke und Särge mit Opfern.
„Die Leichen stapeln sich in Krankenhäusern und Altenheimen“, sagt ein Sprecher der Bestattungsbranche auf Anfrage. Wegen Überfüllung der Depots wurde deswegen der Madrider Sportpalast mit seiner Olympia-Eisfläche zum Zwischenlager umfunktioniert – die größte Leichenhalle der Nation.
Offiziell trägt das Eislauf- und Einkaufszentrum im Nordosten der Stadt den Namen „Dreams“, Träume. Nun wird dieser Traumpalast zum Symbol von Spaniens schlimmstem Albtraum, der noch lange nicht beendet ist. Denn die
Epidemie breitet sich hier noch schneller aus als in Italien.
Jeden Tag sterben allein im Großraum Madrid hunderte Menschen im Zusammenhang mit Sars-CoV-2. Die meisten Opfer sind älter als 80. In manchen Altenheimen sollen seit dem Virus-Ausbruch bis zu einem Drittel der dort wohnenden Senioren gestorben sein, heißt es.
Die Hauptstadtregion ist Spaniens gefährlichste Virus-Risikozone. Knapp die Hälfte aller Toten im Land, die nachweislich am Coronavirus erkrankt waren, wird in Madrid registriert. Man hört von Todesdramen im Bekanntenkreis. Und von Familien, die am liebsten aus der Stadt fliehen würden. Nur die Ausgangssperre verhindert, dass tausende Hauptstadt-Bewohner in ihrer Ferienwohnung an der Küste Zuflucht suchen.
Die statistische Sterblichkeitsquote in Madrid liegt mit weit über zehn Prozent noch deutlich höher als in der italienischen Lombardei oder der chinesischen Provinz Hubei. Diese Zahl lässt vielen Bewohnern das Blut in den Adern gefrieren. Aber die Daten hinken: Denn Spaniens Corona-Statistik zählt lediglich die schweren Infektionen, die einen Krankenhausaufenthalt erfordern, was Schätzungen zufolge nur bei etwa 20 Prozent der Erkrankten der Fall ist. Zehntausende Verdachtsfälle, bei denen die Patienten leichte Symptome haben, werden nicht erfasst. Mit der Folge, dass die prozentuale Sterblichkeitsquote in die Höhe katapultiert wird.
Derweil mehrt sich die Kritik an den Behörden. Ihnen wird vorgeworfen, den Pflege- und Gesund„Vergessen heitssektor nicht ausreichend auf die Epidemie vorbereitet zu haben. Spitäler und Altenheime klagen seit Wochen, dass es an Ausrüstung und Test-Kits mangele. Krankenschwestern berichten, dass sie sich Schutzkittel aus Mülltüten selbst basteln müssen.
Das sind Zustände, wie man sie eher in einem Entwicklungsland vermuten würde. Und nicht in einem Staat, dessen Regierung vor Ausbruch der Epidemie das Volk mit den Worten beruhigte: „Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt.“Schön wär’s. In Wirklichkeit wurde in den Krankenhäusern seit Jahren die Sparaxt geschwungen. Das rächt sich nun.
„Wir werden ohne Waffen in den Krieg geschickt“, klagt ein Arzt im Fernsehen, das pausenlos von der
Virus-Front berichtet. Es fehle an allem: Gesichtsmasken, Kittel, Schutzbrillen. Für die mit der Lungenkrankheit Covid-19 eingelieferten Patienten gibt es in den überfüllten Kliniken nicht genügend Beatmungsgeräte. Mit der Folge, dass die Regeln der Katastrophenmedizin gelten. „Wenn du mehrere Notfallpatienten, aber nur eine Beatmungsmaschine hast, bekommt der Kranke mit der besseren Prognose den Vorrang“, klagt der Mediziner.
Der Mangel an Schutzausrüstung hat verheerende Konsequenzen: Immer mehr Krankenhaus-Mitarbeiter infizieren sich. Sie machen bereits 14 Prozent aller Erkrankten aus. Die Kliniken werden zum Sicherheitsrisiko. Wer nicht todkrank ist, geht daher in Madrid derzeit besser nicht ins Krankenhaus.
„Es gab bei den Behörden keine Vorsorge“, empört sich El País, die größte nationale Zeitung. Und das Blatt ABC überschreibt einen vernichtenden Kommentar mit dem Titel: „Sorglosigkeit und logistisches Chaos“.
Doch die Not weckt nicht nur Zorn, sondern zugleich eine historische Solidarität im Land. Tausende Frauen setzten sich an ihre Nähmaschinen und begannen, Schutzkleidung und Masken für Ärzte und das Pflegepersonal zu schneidern.
Auch die Konsumgüter-Industrie, deren Bänder seit Ausrufung des Ausnahmezustands stillstehen, zieht mit: Modekonzerne wie Zara haben begonnen, im großen Stil Ärzte-Jacken zu produzieren. Schnapsbrennereien stellen mittlerweile Desinfektionsgel her. Und der Automobilriese Seat hilft bei der Produktion von Beatmungsmaschinen. „Wir stellen auf Kriegswirtschaft um“, verkündete Industrieministerin Reyes Maroto.
König Felipe lobt die „titanischen Anstrengungen“, mit denen ganz Spanien gegen die Epidemie kämpft. Mit Atemmaske und blauen Gummihandschuhen geschützt besuchte Felipe dieser Tage das riesige Hilfskrankenhaus, das Soldaten auf dem Messegelände von Madrid gebaut haben. Und er machte den Menschen Mut: „Wir sind in der Lage, auch die größten Schwierigkeiten zu überwinden.“Das Feldhospital, das demnächst auf 5500 Betten ausgebaut werden soll, sei ein „Ort der Hoffnung“.
Im Hilfskrankenhaus der Stadt, das von den Spaniern den Beinamen „Arche Noah“bekam, wird jeder geheilte Patient vom Pflegepersonal mit Bravo-Rufen verabschiedet. Eine schöne Geste, die Zuversicht verbreitet. Genauso wie die Zeremonie an Balkonen und Fenstern, an denen jeden Abend um 20 Uhr hunderttausende Menschen erscheinen und minutenlang ihren Helden, den Ärzten und Krankenschwestern, Beifall spenden. Zum Abschluss wird dann vielerorts das Lied „Resisteré“(Ich werde widerstehen) angestimmt, das zur Hymne des spanischen Anti-Virus-Kampfes wurde. „Ich werde widerstehen, um weiterzuleben“, heißt es darin. Und: „Ich werde alle Rückschläge ertragen und niemals aufgeben.“
Der Sportpalast ist jetzt eine Leichenhalle
Die Kliniken werden zum Sicherheitsrisiko