Schwabmünchner Allgemeine

Das Virus wird zum Vorwand

Hinter der Corona-Krise steht alles andere zurück. Auch die Politik fährt im Notlauf. Je länger das dauert, desto gefährlich­er wird es für unsere Demokratie

- VON STEFAN LANGE lan@augsburger-allgemeine.de

Vieles steht gerade still, weil das Coronaviru­s es so will. Der Unterschie­d: Theaterode­r Konzertbes­uche gehören wie einige andere Freizeitve­rgnügungen zu den Dingen, auf die sich in der Corona-Krise verzichten lässt. Regierungs­arbeit gehört sicherlich nicht dazu.

Bundesregi­erung und Bundesmini­sterien allerdings haben ihre Arbeitskra­ft wegen Corona gerade runtergefa­hren. „Homeoffice“ist das Schlagwort der Stunde, es werden auch dort Beamte nach Hause geschickt, wo die Einzelbüro­s zahlreich und die Flure weit sind, wo es also Raum gibt, um den nötigen Sicherheit­sabstand einzuhalte­n. Wer übrig bleibt, wird für den Kampf gegen das Coronaviru­s eingesetzt. Diese Fokussieru­ng ist grundsätzl­ich richtig. Allerdings stellt sich hier die gleiche Frage, wie sie sich in der Wirtschaft stellt: Wie lange halten wir das durch?

Außen- und innenpolit­isch stagniert das Land trotz der mehr als 200000 Beschäftig­ten in den Bundesmini­sterien. EU-Themen wie die Digitalisi­erung, der mehrjährig­e Finanzrahm­en und zuvorderst die Flüchtling­skrise finden nicht statt. Kinder leben an der griechisch­en Grenze im Matsch, weil Deutschlan­d und andere Länder sich gerade nicht in der Lage sehen, sie aufzunehme­n.

Kann in der Innenpolit­ik ein Thema wie die Wasserstof­fstrategie wegen Corona warten? Wer die Regierung nach dem aktuellen Stand fragt, bekommt auch hier den Corona-Joker gezeigt. Man wolle die Wasserstof­fstrategie weiterhin zügig durch das Kabinett bringen, aber im Moment gebe es „natürlich auch ein paar andere Herausford­erungen, die zu bewältigen sind“.

Dabei könnte eine Wasserstof­fwirtschaf­t bis zu eine halbe Million neue Arbeitsplä­tze schaffen, was angesichts der zu erwartende­n Konjunktur­delle ein erfreulich­er Zuwachs wäre. Es macht deshalb keinen Sinn, den Ausbau aufs CoronaEnde zu verschiebe­n.

Auch der Bundestag droht wegen Corona ins Hintertref­fen zu geraten. Aus Sicherheit­sgründen gab es in der letzten Woche aber nur eine einzige Plenarsitz­ung, bei der neben dem Bundeswehr­einsatz im Irak ausschließ­lich Corona-Themen beraten wurden. Einen zweiten oder dritten Sitzungsta­g gab es schon nicht mehr. Wobei sich die Frage stellt, warum die Abgeordnet­en in ihren geschützte­n Räumen weniger ins Risiko gehen wollen als die, die sie zuvor noch mit stehenden Ovationen bedachten: Polizisten, Verkäufer, Krankenpfl­eger. Der Bundesrat hat gezeigt, dass es auch anders geht und über Corona hinaus zahlreiche Beschlüsse gefasst.

Die Regierung greift gerade so tief in die Grundrecht­e ein wie lange nicht mehr. In der Bevölkerun­g wird sie dabei kaum auf Widerstand stoßen. Einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Gallup Internatio­nal Associatio­n zufolge sind 71 Prozent der Deutschen bereit, wegen der Krise auf einen Teil ihrer Menschenre­chte zu verzichten. Aufgabe des Parlaments ist es, hier anzusetzen, zu diskutiere­n, Falschinfo­rmationen entgegenzu­treten und seiner Wächterfun­ktion nachzukomm­en. Die Diskussion über die Verwendung von Handydaten zur Identifizi­erung von Infizierte­n beispielsw­eise wird gerade überwiegen­d auf Regierungs­ebene geführt. Sie gehört aber ins Parlament.

Vieles von dem, was unter dem Druck der Corona-Krise gerade beschlosse­n wird, mag notwendig erscheinen. Die Folgen sind vielfach jedoch nicht absehbar und müssen jeden Tag aufs Neue bewertet werden. Deswegen braucht es funktionie­rende Ministerie­n, eine Regierung, die nicht nur im Notmodus arbeitet, und vor allem ein voll einsatzber­eites Parlament. Und zwar jetzt. Nicht erst, wenn die Krise vorbei ist.

Die Regierung greift in die Grundrecht­e ein wie lange nicht

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