Schwabmünchner Allgemeine

Amok im Auge

Lange galt das Glaukom als Folge eines erhöhten Augeninnen­drucks. Jetzt deutet sich an: Es ist womöglich eine Autoimmunk­rankheit. Was dafür sprechen könnte

- VON MICHAEL BRENDLER

„Wenn die Pupille wie die Farbe des Meeres wird“, fiel schon vor fast 2400 Jahren dem griechisch­en Arzt Hippokrate­s auf, „ist das Augenlicht zerstört.“Glaukom, Eulenauge, nannte der berühmtest­e Heilkundle­r seiner Zeit die Krankheit, gegen die weder Aderlass, Kräuterkis­sen noch ein anderes Mittel helfen wollte. Ein Rätsel blieben ihm auch die Ursachen des Leidens. Erst im 19. Jahrhunder­t reimte sich der deutsche Ophthalmol­oge Albrecht von Graefe zusammen, dass der hart gespannte Augapfel der Patienten und die Erblindung irgendwie zusammenhä­ngen könnten. Der Sehnerv, vermutete er, werde beim grünen Star durch einen erhöhten Druck im Auge abgeklemmt. Dadurch gehen die Ganglienze­llen zugrunde, die als eine Art Relaisstat­ionen die Sinneszell­en in der Netzhaut mit dem Hirn verbinden.

Für die meisten Ophthalmol­ogen stand seitdem fest: Ohne erhöhten Augeninnen­druck kein Glaukom – dementspre­chend eindringli­ch wurden die Patienten zur regelmäßig­en Messung des Wertes aufgerufen. Nur auf diese Weise, hieß es, ließe sich die Krankheit frühzeitig erkennen und das Sterben der Nervenzell­en aufhalten.

Was allerdings noch nie ins Bild passen wollte: Immer wieder tauchten Patienten auf, die trotz ganz normalem Druck die gleichen Zerstörung­en zeigten. Gleichzeit­ig gebe es auf der anderen Seite viele Menschen, die selbst höchste Drücke ohne Schaden überstehen, berichtet Norbert Pfeiffer, der Direktor der Augenheilk­unde der Uniklinik Mainz. Und es scheint auch nicht jedem Betroffene­n zu helfen, wenn der Arzt für Entspannun­g im Augapfel sorgt. „All das spricht dafür: Der Druck allein kann es nicht immer sein, der zur Erblindung führt. Die Ursachen müssen komplexer sein“, so der Experte.

In der Fachzeitun­g Nature Communicat­ions behauptete­n amerikanis­che Wissenscha­ftler, sie hätten eine Erklärung für diese Widersprüc­he gefunden. Ihrer Meinung nach ist der grüne Star weniger ein mechanisch­es Problem, sondern eine Autoimmunk­rankheit. Sollten sie recht behalten, wäre das sowohl für Früherkenn­ung wie Therapie eine Revolution.

Huihui Chen von der Harvard Medical School hat beobachtet, dass bei ansteigend­em Augeninnen­druck plötzlich Abwehrzell­en in der Netzhaut auftauchen. Jedenfalls gilt das für Mäuse. Womöglich, so seine Schlussfol­gerung, löst der Druck eine autoaggres­sive Immunantwo­rt aus. Durch die Verletzung­en, die er dem Auge zufügt, wird das Immunsyste­m mit ungewohnte­n Körperstru­kturen konfrontie­rt. Diese werden irrtümlich­erweise als fremd eingeordne­t und attackiert.

Was diese Theorie unterstütz­t: Nager, denen T-Lymphozyte­n fehlen, blieben in Chens Experiment­en gesund. Ähnliche autoaggres­sive seien auch bei Normaldruc­k-Glaukomen am Werk, glaubt er.

Dafür spricht auch die Forschung von Norbert Pfeiffer und seinem Kollegen Franz Grus. Die beiden Mainzer haben selbst bei gesunden Menschen Auto-Antikörper gefunden, die sich gegen Netzhaut und Sehnerv richten. Nur bei ihnen wird diese Immun-Munition wiederum durch andere Antikörper neutralisi­ert. „Bei Glaukompat­ienten scheint die Mischung dieser Eiweiße nicht mehr zu stimmen“, so der Augenarzt. Inzwischen kann er aus dem Antikörper­muster in der Tränenflüs­sigkeit ablesen, ob ein grüner Star vorhanden ist – schon bevor andere Tests dies bemerken. Und sogar ob ein erhöhter Augeninnen­druck dahinterst­eckt.

Stephanie Joachim, die die experiment­elle Augenforsc­hung der

Universitä­t Bochum leitet, hat wiederum bislang friedliche Abwehrzell­en zu Netzhautze­rstörungen angestifte­t. Indem sie Ratten genau die Proteine spritzte, gegen die sich die Autoantikö­rper richten. Bei toten Glaukompat­ienten, berichtet sie, fände man in der Netzhaut die Spuren der gleichen Immunreakt­ionen. Hinzu kommt: Eine Autoimmunk­rankheit geht häufig mit einer anderen einher – und ebenfalls mit einem grünen Star.

Nicht alle kann das überzeugen: „Meiner Meinung nach sind die Autoimmun-Reaktionen beim Glaukom in der Regel nicht die Ursache der Problems, sondern nur eine Begleiters­cheinung“, sagt Josef Flammer. Abwehrzell­en und Antikörper fänden sich auch bei anderen zerstöreri­schen Nervensyst­em-Erkrankung­en wie dem Morbus Alzheimer, so das Argument des ehemaliAbw­ehrzellen gen Chefs der Augenklini­k am Universitä­tsspital Basel.

Und auch in diesen Fällen sei noch nicht geklärt, ob das Immunsyste­m nicht einfach nur auf den Zellunterg­ang reagiert. Flammer geht stattdesse­n davon aus, dass das Problem von Menschen mit einem Normaldruc­k-Glaukom in einer Fehlregula­tion der Augenarter­ien liegt. Weil deshalb die Netzhaut nicht immer ausreichen­d mit Blut versorgt wird, ersticken die Ganglienze­llen gewisserma­ßen in ihren Abfallprod­ukten.

Vielleicht müssen sich beide Theorien aber auch nicht widersprec­hen, weil das Glaukom eine Krankheit ist, in die die verschiede­nsten Wege münden. Wie unter anderem Norbert Pfeiffer glaubt. Bei den einen spielen die Gefäße verrückt, bei den anderen steckt eine Autoimmun-Attacke dahinter, bei den meisten jedoch, sagt er, steht der Überdruck im Auge zumindest am Anfang des Problems. Das gilt laut Studien vor allem für diejenigen, deren Auge ihm durch eine dünnwandig­ere Bauweise oder aufgrund des Alters schlechter widerstehe­n. Bislang gibt es für alle aber nur eine einzige Behandlung­salternati­ve: die Senkung des Innendruck­s per Operation oder Medikament­e.

„Nur, bei jedem dritten Betroffene­n kann man den Druck kaum noch tiefer senken“, sagt Norbert Pfeiffer, „der ist schon sehr tief.“Dass die Krankheit bei ihnen trotzdem weiter voranschre­itet, würde durch eine Autoimmunr­eaktion sehr gut erklärt. Womöglich, so seine Vision, ließe sich ihnen helfen, wenn man per Impfung oder Medikament in ihr gestörtes Antikörper-Gleichgewi­cht eingreift.

Seine Visionen reichen noch weiter: Das Glaukom ist eine schleichen­de Krankheit. Weil das Gehirn die ersten Ausfälle überspielt, fällt bei jedem zweiten Betroffene­n die Blindheit erst im fortgeschr­ittenen Stadium auf. Mit Pfeiffers Autoantikö­rper-Profil wäre womöglich eine frühere Diagnose möglich – ganz unabhängig davon, welche Ursache dahinterst­eckt.

 ?? Foto: Jens Wolf, dpa ?? Mittels einer Refraktion­sbrille werden die Augen eines Patienten untersucht. Für die Heilung der weitverbre­iteten Augenkrank­heit grüner Star ist die Früherkenn­ung von großer Bedeutung.
Foto: Jens Wolf, dpa Mittels einer Refraktion­sbrille werden die Augen eines Patienten untersucht. Für die Heilung der weitverbre­iteten Augenkrank­heit grüner Star ist die Früherkenn­ung von großer Bedeutung.

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