Schwabmünchner Allgemeine

Gustave Flaubert: Frau Bovary (36)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Das hab ich schon erlebt!“flüsterte sie.

„Und darum“, fuhr er fort, „liebe ich die Dichter über alles. Ich finde, Verse sind zarter als Prosa. Sie rühren so schön zu Tränen!“

„Aber sie ermüden auf die Dauer,“wandte Emma ein, „und daher ziehe ich jetzt mehr die Romane vor, aber sie müssen spannend und aufregend sein. Widerlich sind mir Alltagsleu­te und lauwarme Gefühle. Die hat man doch schon genug in der Wirklichke­it.“

„Gewiß,“bemerkte der Adjunkt, „die naturalist­ischen Romane haben dem Herzen nichts zu sagen und entfernen sich damit, meiner Ansicht nach, von dem wahren Ziele der Kunst.

Es ist so süß, sich aus den Häßlichkei­ten des Daseins herauszuzü­chten, wenigstens in Gedanken: zu edlen Charaktere­n, zu hehren Leidenscha­ften und zu glückselig­en Zuständen.

Für mich, der ich hier fern der großen Welt lebe, ist das die einzige

Erholung. Nur hat man in Yonville wenig Gelegenhei­t…“

„Jedenfalls genau so wie in Tostes!“bemerkte Emma. „Drum war ich ständig in einer Leihbiblio­thek abonniert.“

Der Apotheker hatte diese letzten Worte gehört. „Wenn gnädige Frau mir die Ehre erweisen wollen,“sagte er, „meine Bibliothek zu benutzen, so steht sie Ihnen zur Verfügung. Sie enthält die besten Autoren: Voltaire, Rousseau, Delille, Walter Scott, außerdem em paar Zeitschrif­ten und Zeitungen, unter andern den „Leuchtturm von Rouen“, ein Tagesblatt, dessen Korrespond­ent für Buchy, Forges, Neuschâtel, Yonville und Umgegend ich bin.“

Man saß bereits zwei und eine halbe Stunde bei Tisch, nicht ohne Mitverschu­lden der bedienende­n Artemisia, die in ihren Holzschuhe­n saumselig über die Dielen schlürfte, jeden Teller einzeln hereinbrac­hte, allerlei vergaß, jeden Auftrag überhörte und immer wieder die Türe zum Billardzim­mer offen ließ, die dann krachend von selber zuklappte. Ohne es zu bemerken, hatte Leo, während er so eifrig plauderte, einen Fuß auf eine der Querleiste­n des Stuhles gesetzt, auf dem Frau Bovary saß. Sie trug einen gefalteten steifen Batistkrag­en und einen blauseidne­n Schlips, und je nach den Bewegungen, die sie mit ihrem Kopfe machte, berührte ihr Kinn den Batist oder entfernte sich graziös davon. So kamen Leo und Emma, während sich Karl mit dem Apotheker unterhielt, in eins jener uferlosen Gespräche, die um tausend oberflächl­iche Dinge kreisen und keinen andern Sinn haben, als die gegenseiti­ge Sympathie einander zu bekunden. Pariser Theaterere­ignisse, Romantitel, moderne Tänze, die ihnen fremde große Gesellscha­ft, Tostes, wo Emma gelebt hatte, und Yonville, wo sie sich gefunden, alles das berührten sie in ihrer Plauderei, bis die Mahlzeit zu Ende war.

Als der Kaffee gebracht wurde, ging Felicie fort, um in der neuen Wohnung das Schlafzimm­er zurechtzum­achen. Bald darauf brach die kleine Tischgesel­lschaft auf. Frau Franz war längst am erloschene­n Herdfeuer eingenickt. Aber der Hausknecht war wachgeblie­ben. Eine Laterne in der einen Hand, begleitete er Herrn und Frau Bovary nach Haus. In seinem roten Haar hing Häcksel, und auf einem Beine war er lahm. Den Schirm des Pfarrers, den er ihm noch hintragen sollte, in der andern Hand, ging er voran.

Der Ort lag in tiefem Schlafe. Die Säulen der Hallen auf dem Markte warfen lange Schatten über das Pflaster. Der Boden war hellgrau wie in einer Sommernach­t. Da das Haus des Arztes nur fünfzig Schritte vom Goldnen Löwen entfernt lag, wünschte man sich alsbald gegenseiti­g Gute Nacht, und so schied man voneinande­r.

Als Emma die Hausflur ihres neuen Heims betrat, hatte sie die Empfindung, als lege sich ihr die Kühle der Wände wie feuchte Leinwand um die Schultern. Der Kalkbewurf war frisch. Die Holztreppe­n knarrten. In ihrem Zimmer, im ersten Stock, fiel fahles Licht durch die gardinenlo­sen Fenster. Sie sah draußen Baumwipfel und weiterhin in der Niederung das Wiesenland, ein Nebelmeer darüber. Das Mondlicht sickerte durch die aufwallend­en Dämpfe. Im Zimmer standen Kommodenkä­sten, Flaschen, Gardinenst­angen, Möbelstück­e und Geschirr kunterbunt umher. Die beiden Packer hatten alles so stehen und liegen lassen. Zum vierten Male schlief Emma an einem ihr noch fremden Orte. Das erstemal war es am Tage ihres Eintritts ins Kloster gewesen, das zweitemal an dem ihrer Ankunft in Tostes, das drittemal im Schloß Vaubyessar­d und das vierte hier in Yonville. Jedesmal hatte ein neuer Abschnitt in ihrem Leben begonnen. Darum glaubte sie, daß sich die gleichen Dinge an verschiede­nen Orten nicht wiederhole­n könnten; und da ihr bisheriges Stück Leben häßlich gewesen war, so müsse das, was sie noch zu erleben hatte, zweifellos schöner sein.

Drittes Kapitel

Am andern Morgen, als Emma kaum aufgestand­en war, sah sie den Adjunkt über den Markt gehen. Sie war im Morgenklei­d. Er schaute zu ihr herauf und grüßte. Sie nickte hastig mit dem Kopfe und schloß das Fenster. Den ganzen Tag über konnte es Leo Dúpuis kaum erwarten, daß es sechs schlug. Als er aber endlich in den Goldnen Löwen kam, fand er niemanden vor als den Steuereinn­ehmer, der bereits am Tische saß. Das gestrige Mahl war für Leo ein bedeutungs­volles Ereignis. Bis dahin hatte er noch niemals zwei Stunden lang mit einer „Dame“geplaudert. Wie hatte er es nur fertiggebr­acht, ihr eine solche Menge von Dingen und in so guter Form zu sagen? Das war ihm vordem unmöglich gewesen. Er war von Natur schüchtern und wahrte eine gewisse Zurückhalt­ung, die sich aus Schamhafti­gkeit und Heuchelei zusammense­tzt. Die Yonviller fanden sein Benehmen tadellos. Er hörte still zu, wenn ältere Herren disputiert­en, und zeigte sich in politische­n Dingen keineswegs radikal, was an einem jungen Manne eine seltene Sache ist. Dazu besaß er allerlei Talent: er aquarellie­rte, er war musikalisc­h, er beschäftig­te sich in seinen Mußestunde­n gern mit der Literatur, – wenn er nicht gerade Karten spielte. Der Apotheker schätzte ihn wegen seiner Kenntnisse, und Frau Homais war ihm wohlgewoge­n, weil er höflich und gefällig war; öfters widmete er sich nämlich im Garten ihren Kindern, kleinem Volk, das immer schmutzig aussah und sehr schlecht erzogen war und dessen Beaufsicht­igung einmal dem Dienstmädc­hen und dann noch besonders dem Lehrling oblag, einem jungen Burschen, namens Justin. Er war ein entfernter Verwandter des Apothekers, von diesem aus Mitleid in seinem Haus aufgenomme­n, wo er eine Art „Mann für alles“geworden war. Homais spielte die Rolle des guten Nachbars. Er gab Frau Bovary die besten Adressen für ihre Einkäufe, ließ seinen Apfelweinl­ieferanten eigens für sie herkommen, beteiligte sich an der Weinprobe und gab persönlich acht, daß das bestellte Faß einen geeigneten Platz im Keller erhielt. »37. Fortsetzun­g folgt

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