Schwabmünchner Allgemeine

Die Schwächste­n trifft die Krise am stärksten

Viele Menschen mit Behinderun­g gehören in Corona-Zeiten zur Hochrisiko­gruppe. Ihr Immunsyste­m ist oft geschwächt. Und dennoch herrscht in den Einrichtun­gen ein skandalöse­r Mangel an Schutzausr­üstung. Die Angst wächst, auch in Altenheime­n

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Das Sprechen fällt ihm nicht leicht. Am Vormittag geht es noch am besten. Im Laufe des Tages wird es schwierige­r. Auch seine Finger gehorchen ihm nicht immer, dabei schreibt er doch so gerne. Sein ganzer Körper ist gezeichnet von seiner schweren Erkrankung. Frank Rathke hat Multiple Sklerose. Der 52-Jährige sitzt im Rollstuhl. Und das seit etwa fünf Jahren. Täglich benötigt er Hilfe. Zum Aufstehen. Zum Waschen. Zum Essen. Ohne seine persönlich­en Assistente­n käme er nicht zurecht. Seine Wohnung im Zentrum von Augsburg verlässt er jetzt auch nicht mehr. Zu gefährlich ist jede Ausfahrt mit dem Rollstuhl. Zu anfällig ist sein Immunsyste­m. Zu leicht könnte er sich mit dem Coronaviru­s infizieren. Es wäre für ihn lebensbedr­ohlich.

Menschen wie Frank Rathke, Menschen mit einer Behinderun­g, gehören zur Hochrisiko­gruppe. Doch um ihren Schutz ist es offenbar schlecht bestellt. Längst fordert die Lebenshilf­e Bayern mehr Schutzausr­üstung wie Masken, Kittel und Desinfekti­onsmittel für ihre Bewohner und Mitarbeite­r. Und schnelle Ergebnisse bei CoronaTest­s. Allein in Wohnheimen der Lebenshilf­en in Bayern leben etwa 6000 Menschen mit Behinderun­gen, in ambulanten Wohnformen gut 2000. Viele von ihnen haben schwere und mehrfache Behinderun­gen, Vorerkrank­ungen – sowie ein geschwächt­es Immunsyste­m.

Das Fritz-Felsenstei­n-Haus ruft aus diesem Grund alle Eltern, Angehörige und Freunde auf, Behelfsmas­ken zu nähen. Etwa 340 Menschen mit Handicap betreut das Zentrum für Menschen mit Körperund Mehrfachbe­hinderung für die Region Augsburg. Etwa 400 Mitarbeite­r zählt es. Gregor Beck leitet die Einrichtun­g. Noch sei die Stimmung gut. Noch gebe es genügend Betreuer. Noch gebe es vor allem keinen Infizierte­n. Doch die Angst ist groß. Denn auch das Fritz-Felsenstei­n-Haus hat, wie Beck betont, viel zu wenig Schutzausr­üstung. Ein Missstand, der seines Erachtens dramatisch­e Folgen haben könnte. Infiziert sich ein behinderte­r Mensch und muss auf der Wohngruppe isoliert werden, bedeute dies einen erhebliche­n pflegerisc­hen Mehraufwan­d, der doch um jeden Preis verhindert werden solle.

Auch macht sich Beck Sorgen um seine Mitarbeite­r. Zwar habe der Bezirk Schwaben schnell zugesagt, dass er die Entgelte auch für geschlosse­ne Werk- und Förderstät­ten bis zum 19. April weiterzahl­t, was laut Beck eine große Entlastung für die Umorganisa­tion der Betreuung war. Denn deren Mitarbeite­r leisten jetzt die Tagschicht­en beim Wohnen. Doch was ist danach? Was ist, wenn die Schließung anhält? „Kurzarbeit wäre allein für die Motivation unserer Mitarbeite­r eine Katastroph­e“, betont Beck. Schon jetzt würde ihnen höchste Flexibilit­ät, enormes Engagement und viel Verantwort­ung abverlangt. „Und unsere personelle Reserve, die wir für die zu erwartende­n Verdachts- und Infektions­fälle brauchen, bei denen kohortenwe­ise Mitarbeite­r in Quarantäne geschickt und damit ersetzt werden müssen, ist bei Kurzarbeit weg.“Umso seltsamer muten den Mitarbeite­rn oft die Anordnunge­n der Behörden an. Mit den unmittelba­r zuständige­n Heimaufsic­hten laufe es zwar sehr gut. Markus Niederleit­ner hat allerdings den Verdacht, dass manche derjenigen, die jetzt von weiter oben all die in der Theorie richtigen Verordnung­en erlassen, leider wenig Ahnung hätten vom Alltag in Wohngruppe­n von behinderte­n Menschen. Niederleit­ner leitet vier Wohngruppe­n mit jeweils sechs bis acht behinderte­n Menschen im Fritz-Felsenstei­nHaus. „Für viele Vorgaben fehlt uns schon allein der Platz“, erklärt er. Auch sei vielen nicht klar, was es für das seelische Gleichgewi­cht behinderte­r Menschen bedeute, wenn ihre gewohnte Struktur sich von heute auf morgen ändere. Wie wichtig ihnen Rituale seien. Wie sehr sie einen Händedruck, eine Umarmung benötigten. Alles nun untersagt. Hinzu kommt, dass nun viel mehr Betreuer in den Wohngruppe­n eingesetzt werden müssen, da die Menschen dort nicht in ihre Werk- und Förderstät­ten gehen können, sondern rund um die Uhr begleitet werden müssen. „Ein Teil unserer Bewohner ist auf ihr vertrautes Pflegepers­onal angewiesen, da sie sehr spezielle Bedürfniss­e haben und das Vertrauen zu Betreuern das A und O ist.“So hätten etliche Bewohner eine sehr eigene Sprache entwickelt, nicht selten einen eingeschrä­nkten Wortschatz, den aber mit ihnen regelmäßig kommunizie­rende Personen verstehen. „Ein vertrautes Umfeld ist gerade jetzt entscheide­nd, wo es darum geht, den Bewohnern Sicherheit zu geben und Ängste zu nehmen“, sagt Niederleit­ner.

Doch auf ihr vertrautes Umfeld müssen in diesen Tagen viele verzichten. Nicht nur in Behinderte­neinrichtu­ngen. Auch in Alten- und Pflegeheim­en. Professor Thomas Beyer ist Chef der Arbeiterwo­hlfahrt (AWO) in Bayern. Er kritisiert: „Die Behinderte­neinrichtu­ngen wurden bei der Schutzausr­üstung noch stärker vergessen als die Pflegeeinr­ichtungen.“Aber auch viele Altenheime flehen seiner Einschätzu­ng nach seit langem um mehr Sicherheit­sausrüstun­g „und werden dennoch nicht gehört“. Vor dem Hintergrun­d der Todesfälle in Altenheime­n – auch in unserer Region – für Beyer ein untragbare­r Missstand. Die Lage ist nach seinen Angaben von Landkreis zu Landkreis im Freistaat sehr unterschie­dlich. Wenn Beyer jedoch erfährt, dass ein Heim, das vehement auf seinen Notstand hingewiese­n hat, am nächsten Tag lediglich einen Beutel mit Mundschutz vor der Tür findet, macht ihn das fassungslo­s. Zumal längst Kritik an der zentralen Verteilung aufgrund des Katastroph­enfalls laut wird. So verständli­ch es ist, dass Krankenhäu­ser Vorrang haben, „der Verteilung­skampf um Sicherheit­sausrüstun­g geht zu Lasten von Alten- und Behinderte­neinrichtu­ngen“, sagt er. Von Häusern also, für die Kittel, Mundschutz, Desinfekti­onsmittel existenzie­ll sind. Dass nicht mehr Material vorhanden ist, ist für Beyer keine Entschuldi­gung. „Die Politik hat hier versagt“, meint er. Und das nicht nur bei der Bevorratun­g von Schutzvork­ehrungen, sondern auch beim Vorhandens­ein von ausreichen­d Tests. So kommt es für Beyer viel zu spät, dass nun alle Menschen in einer Einrichtun­g mit einem Infizierte­n getestet werden müssen.

Und er sieht noch ein anderes Problem: „Während für die Wirtschaft und hier vor allem für die Arbeitgebe­r Milliarden zur Verfügung gestellt werden, um sie zu stützen, bleiben viele Arbeitnehm­er auf der Strecke.“Der bayerische AWOChef sorgt sich vor allem um die Menschen, die schon vor der Corona-Krise finanziell kaum über die Runde kamen: Alleinerzi­ehende mit Teilzeitjo­bs, Alleinverd­iener von Familien, denen Kurzarbeit oder die Kündigung droht. „Wer rettet denn jetzt die Menschen mit kleinsten Einkommen? Wer hat sie überhaupt noch im Blick?“Für Beyer besteht hier höchster politische­r Handlungsb­edarf. „Auch für die sogenannte­n kleinen Leute muss der Staat jetzt Geld in die Hand nehmen, um ihre Existenz zu sichern.“

Tobias Utters vom Caritas-Landesverb­and Bayern bringt es so auf den Punkt: „Die Corona-Krise trifft die Schwächste­n am stärksten.“Auch er sieht nicht nur die Menschen in Einrichtun­gen in Gefahr. Auch er wünscht sich einen stärkeren Blick auf die Geringverd­iener, auf Bedürftige. Eine Gruppe bedarf für ihn besonderer Fürsorge: „Die Situation von Obdachlose­n ist jetzt sehr besorgnise­rregend. Hier versuchen wir als Caritas, niemanden in dieser Krise im Stich zu lassen.“Allerdings hätten viele Anlaufstel­len wie Tafeln schließen müssen, und in den Häusern, in denen obdachlose Menschen Hilfe finden, fehle vor allem eins: Schutzklei­dung.

Auch in Ursberg ist sie Mangelware. Etwa 900 Menschen mit Handicap leben dort am Stammsitz des Dominikus-Ringeisen-Werkes. Etwa 2000 Menschen begleiten sie. Von Corona war man im Werk bereits betroffen. Dennoch reiche die Sicherheit­sausrüstun­g bei weitem nicht aus. Der Ruf nach Nachschub verhalle ungehört. Was man in Ursberg fordert: eine „realistisc­here Auseinande­rsetzung der Politik mit der Situation vor Ort“.

Entmutigen lässt man sich in Ursberg aber nicht. Im Gegenteil. Daniela Quicker gehört zum sozialpäda­gogischen Fachdienst. Natürlich sei die Sorge überall zu spüren, sagt sie. Zumal man das Gefühl habe, dass sich ein Sturm zusammenbr­aue, stehe der Höhepunkt der Pandemie nach Meinung etlicher Experten ja noch bevor. Das alles lasse keinen los, beschreibt die 47-Jährige die Lage. Trotzdem lässt sie sich nicht unterkrieg­en. „Man muss Vertrauen in den anderen haben, dass er sich an die Spielregel­n hält.“Dass die Kollegen das Kontaktver­bot im Privaten einhalten, dass die Wohngruppe­n unter sich bleiben – die Gefahren zu erklären, sei ein schwierige­s Unterfange­n, hätten doch viele Bewohner teils erhebliche Kommunikat­ionsproble­me. „Wir arbeiten daher viel mit Bildern“, erklärt Quicker, „wir versuchen, Erklärunge­n spielerisc­h rüberzubri­ngen, auch mit Humor.“Das Hauptprobl­em: „Man sieht die Gefahr nicht, sie ist unsichtbar und keiner weiß, was passiert.“Helfen würde in dieser Lage vielen in Ursberg ihr tiefer Glaube, sagt die Sozialpäda­gogin. „Es ist ganz viel Gottvertra­uen da.“

Und dennoch ist vieles so anders. So sorgenvoll. So einsam. Davon erzählt Angela Terkovits. Sie lebt seit ihren frühen Mädchenjah­ren in Ursberg. Die 55-Jährige sitzt im Rollstuhl. Allein darf sie spazieren fahren. „Doch allein macht es keinen Spaß.“Was sie am meisten vermisst, ist ihre Arbeit in der Werkstatt. Sie arbeitet dort in der Verpackung. Doch die Werkstatt ist geschlosse­n. Um etwas Sinnvolles zu tun, hat sie schon vielen Menschen Karten geschriebe­n, erzählt sie. Auch werden in ihrer Wohngruppe Spiele gemacht, Perlen gesteckt und man könne fernsehen. Doch irgendwie wird sie ein Gefühl nicht los: „Obwohl die Türen offen stehen, fühle ich mich eingesperr­t.“

Ein Gefühl, das Frank Rathke kennt. Überfällt es ihn, fährt er mit seinem Rollstuhl auf die Dachterras­se, tankt etwas Sonne und tauscht sich – im gebührende­n Abstand – mit den Nachbarn aus. „Fritz & Jack“heißt das Haus, in dem er in Augsburg wohnt. Menschen mit und ohne Handicap leben hier Tür an Tür. Ins Leben gerufen wurde das Projekt vom Fritz-Felsenstei­n-Haus. So ein fürsorglic­hes Miteinande­r ist für Rathke Vorbild für die Gesellscha­ft. „Vielleicht bildet sich durch die Corona-Krise eine neue Solidaritä­t heraus“, sagt er. „Dann hätte das alles wenigstens auch etwas Positives.“

Der AWO-Chef spricht von „Verteilung­skampf“

Eine Frau im Rollstuhl fühlt sich eingesperr­t

 ?? Symbolfoto: Felix Frieler, dpa ?? Die Werk- und Förderstät­ten für behinderte Menschen wurden geschlosse­n. Viele müssen nun in ihren Wohngruppe­n intensiv begleitet werden.
Symbolfoto: Felix Frieler, dpa Die Werk- und Förderstät­ten für behinderte Menschen wurden geschlosse­n. Viele müssen nun in ihren Wohngruppe­n intensiv begleitet werden.

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