Schwabmünchner Allgemeine

Die 99-Jährige

„Wir begegnen uns nun eben auf andere Art“

-

Im September werde ich 100 Jahre alt, aber so etwas habe ich auch noch nicht erlebt. Als ich vor 50 Jahren, also in der Mitte meines Lebens, in der Erwachsene­nbildung tätig war, hieß das Motto: lebenslang­es Lernen. Daran muss ich gerade oft denken. Denn auch ich lerne immer noch dazu. Die momentane Situation erfordert von uns allen jeden Tag Umdenken, Anpassung und Weitherzig­keit. In einem Seniorenwo­hnheim herrscht normalerwe­ise ein Kommen und Gehen, in diesen Tagen ist es sehr ruhig hier. Auch ich muss auf den Besuch meiner drei Kinder, sechs Enkel und sieben Urenkel verzichten. Aber es bringt nichts, darüber zu jammern. Ich bin überzeugt, dass die Maßnahmen notwendig sind, auch wenn wir alle nun mit den Auswirkung­en zu kämpfen haben, jeder auf seine Weise. Ich nehme die Tage, wie sie kommen. Und zum Glück habe ich mein Telefon. Bei einer so großen Familie reichen schon ein paar Minuten Gespräch mit jedem und die Tage und Abende sind erfüllt. Ich höre die Stimmen meiner Lieben aus der Ferne und freue mich daran.

Wenn man so alt wird wie ich, lebt man auch von den Erinnerung­en. Sie sind für mich die Sonnenstra­hlen des Alters. So habe ich das an meinem 70. Geburtstag einmal beschriebe­n. Heute sind alle meine Kinder selbst schon über 70 und es sind viele Erinnerung­en hinzugekom­men. Die Begegnung und der Austausch mit anderen Menschen haben mein ganzes Leben geprägt. Nun begegnen wir uns eben auf eine andere Art, am Telefon, im Gebet und in Gedanken. Und jede Begegnung ist ein Geschenk, gerade in diesen Zeiten.

(msti)

 ?? Foto: msti ?? Ursula Wichert, 99, lebt in einem Seniorenwo­hnheim in Friedberg.
Foto: msti Ursula Wichert, 99, lebt in einem Seniorenwo­hnheim in Friedberg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany