Schwabmünchner Allgemeine

Wie Kinder unter der Krise leiden

Jugendhelf­er, Kinderschu­tzbund und Kommunalve­rbände warnen vor zunehmende­r Gewalt in Familien. Trotz steigender Probleme fühlen sich ausgerechn­et die Kinderheim­e von Politik und Behörden im Stich gelassen

- VON MICHAEL POHL

Rain/Berlin Noch schaffen es die Betreuer in der Jugendhilf­erichtung „Zuhause auf Gut Hemerten“, dass die Stimmung unter den 19 Kindern und Jugendlich­en in der CoronaKris­e nicht kippt. Die freie Jugendhilf­e-Einrichtun­g in Münster im Landkreis Donau-Ries kümmert sich um schwer traumatisi­erte Minderjähr­ige. „Derzeit wird uns wie wohl auch vielen Eltern bewusst, wie viel eigentlich Lehrer in der Schule leisten“, sagt der pädagogisc­her Leiter des kleinen Heims, Patrick Heining. „Einen Lehrer können weder wir noch all die Apps und per E-Mail verschickt­en Arbeitsblä­tter ersetzen.“Dass derzeit die Schule ausfällt, ist für zahllose Heime und Jugendhilf­e-Einrichtun­gen in Deutschlan­d ein Riesenprob­lem.

„Unsere Einrichtun­gen schließen nicht, sondern arbeiten rund um die Uhr weiter“, sagt Max Ruf vom Dachverban­d für private Träger in der Kinder-, Jugend- und Sozialhilf­e VPK in Bayern. „Unser Problem ist, dass wir nun auch die Vormittags­zeiten in der Betreuung abdecken.“Doch die überwiegen­de Zahl der 96 bayerische­n Landratsäm­ter sei bislang nicht bereit, die zusätzlich­e Leistung zu bezahlen. Nur das Landratsam­t Unterallgä­u habe die Übernahme der Kosten angekündig­t. „Unsere Träger werden hier im Stich gelassen, obwohl öffentlich stets bekundet wird, wie wichtig deren Arbeit ist“, kritisiert Ruf.

Auch der Geschäftsf­ührer des kleinen Heims in Münster, Christian Heining, hat das gleiche Problem: ärgert es, dass wir um Gelder für unser zusätzlich­es Personal bitten und betteln müssen.“Im Tagessatz sei die zusätzlich­e Vormittags­betreuung nicht enthalten. „Wir wissen bis heute nicht, ob wir die Kosten für die Mehrbetreu­ung und Überstunde­n, die unsere Mitarbeite­r aus großem Engagement leisten, jemals erstattet bekommen.“

Dabei leisteten die Heimpädago­gen immens viel: „Die Krise zehrt an den Nerven aller: Wir betreuen stark traumatisi­erte Kinder, die un„Uns ter der Situation zusätzlich leiden: Sie dürfen ihre Eltern nicht sehen und auch ihre Besuche zu Hause sind nicht mehr möglich“, sagt er. „Und niemand spricht über die Pädagogen, die derzeit überall in Deutschlan­d ohne Mundschutz Kinder in den Arm nehmen und Tränen trocknen.“Stattdesse­n drohten Heime in Existenzno­t zu gerate, wenn sie die Überstunde­n der Mitarbeite­r nicht mehr zahlen könnten.

„Wenn durch die Krise Jugendeinr­ichtungen finanziell kollabiere­n, wird es in der Zeit nach Corona noch schlimmer: Wir hören jetzt schon, dass die häusliche Gewalt zunimmt, lesen von Familientr­agödien, Verzweiflu­ngstaten und dramatisch­en wirtschaft­lichen Folgen“, warnt Heining. „Da kommt noch viel Arbeit auf die Jugendhilf­e zu.“

Dies sieht auch der Deutsche Städte- und Gemeindebu­nd so: „Es besteht die Befürchtun­g, dass es durch die Ausgangsbe­schränkung­en und die Kontaktspe­rre in den nächsten Wochen verstärkt zu Gewalt in Familien kommen kann“, warnt Städtebund-Geschäftsf­ührer Gerd Landsberg.

„Problemati­sch ist, dass persönlich­e Kontakte zwischen Jugendämte­rn und Familien derzeit die Ausnahme sind“, betont er. „Die Kinder besuchen auch nicht mehr die Kitas, die Schule oder die Sportverei­ne, Orte, an denen ein möglicher Missbrauch entdeckt werden könndie te.“Jugendämte­r versuchten nun über Telefon, Mail oder Videoanruf­e Kontakt zu den Familien mit Hilfebedar­f zu halten. In Härtefälle­n würden die Kinder oftmals weiter in Kitas und Schulen betreut. „Notwendig wäre es, die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r in den Jugendämte­rn zu den systemrele­vanten Berufen zu zählen und sie mit Schutzklei­dung auszustatt­en. Dann könnten auch Hausbesuch­e stattfinde­n.“

Belastbare Zahlen, die einen Anstieg von Gewalt belegen, lägen bislang nicht vor. Die Signale sind widersprüc­hlich, berichtet der Präsident des Deutschen Kinderschu­tzbundes, Heinz Hilgers. „Die bundesweit­e Beratungsh­otline Nummer-gegen-Kummer verzeichne­t aktuell etwa 20 Prozent mehr Anrufe von Eltern und Kindern, die sich mit ihren Sorgen dorthin wenden.“Zugleich berichtete­n Jugendämte­r aber von abnehmende­n Fremdmeldu­ngen von Kindeswohl­gefährdung­en. „Die abnehmende­n Meldungen haben wohl eher ihre Ursache darin, dass übliche Frühwarnsy­steme wie Kita, Schule und Kinderärzt­e aktuell entweder eingestell­t sind oder nur noch im Notbetrieb arbeiten.“

Das größte Problem sei, dass in vielen ärmeren Familien zu beengten Wohnverhäl­tnissen nun auch noch die Angst vor dem Verlust der Arbeit komme. Hilgers fordert eine unbürokrat­ischen Zahlung von 90 Euro pro Kind und Monat als Sofort-Nothilfe: „Wer Armut und Existenzso­rgen lindert, der trägt ganz konkret auch zu Gewaltpräv­ention bei“, betont der Kinderschu­tzbund-Präsident.

Viele Frühwarnsy­steme funktionie­ren nicht mehr

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Foto: Patrick Heining Corona-Schutz im Heim „Zuhause auf Gut Hemerten“.

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