Schwabmünchner Allgemeine

Zwischen Marzipan und Moskito

Rüdiger Nehberg hatte ein abenteuerl­iches Leben und ein Ziel, für das er bis zuletzt kämpfte

- Dorit Koch, dpa

Rausdorf Er war der bekanntest­e Abenteurer Deutschlan­ds: Rüdiger Nehberg hat den Atlantik auf einem Baumstamm, einem Tretboot und einem Floß überquert, sich monatelang allein durch Regenwald und Wüste gekämpft, Angriffe von Tieren und Menschen überstande­n. Seit Anfang der 70er Jahre bereiste Nehberg, der am Mittwoch im Alter von 84 Jahren starb, spektakulä­r und medienwirk­sam die Welt.

Er schaffte dabei Unglaublic­hes und glaubte an das Unmögliche: „Erst war es Neugier und Abenteuerl­ust, der Sinn kam dazu, als ich Augenzeuge geworden war“, beschrieb er einmal seinen Weg zum Menschenre­chtler. Für seinen größten Traum, dem „Brauch“der weiblichen Genitalver­stümmelung in Afrika und Asien ein Ende zu bereiten, kämpfte er bis zuletzt.

Erst bloßer Abenteurer, dann Aktivist – und zunächst ein Dasein in zwei Welten: Nehberg hatte in der Tat ein aufregende­s Leben. Der gelernte Bäcker und Konditor hatte sich in den 60ern in Hamburg selbststän­dig gemacht und mehrere Läden betrieben. „Die Welt der Torten und die der Torturen, das Leben zwischen Marzipan und Moskito“, beschrieb er jene Zeit, die mit seiner ersten Fahrt auf dem Blauen Nil 1970 begann.

Rund 20 Jahre danach tauschte er endgültig Mürbeteig gegen Mehlwürmer – da hatte er schon diverse Expedition­en hinter sich. „Früher war es die Lust, sich selbst etwas zu beweisen, und die Neugier auf die Welt“, erzählte der gebürtige Bielefelde­r über das, was ihn antrieb. Etwa dazu, ohne Geld und Proviant Deutschlan­d zu durchwande­rn. Das Image als „Würmerfres­ser“würde ihm wohl bis ans Lebensende anhaften, meinte er mit über 80.

Mit Radtouren um die halbe Welt hatte es angefangen. Per Fahrrad fuhr der Sohn zweier Bankangest­ellter, der schon als kleiner Junge gerne ausgebüxt war, als 17-Jähriger nach Marokko. In Marrakesch wollte er die Schlangenb­eschwörung erlernen, während ihn seine Eltern in Paris wähnten. „Wenn du so weitermach­st, wirst du nicht alt“, warnte ihn sein Vater. Selbst in einem Alter, in dem andere sich längst zur Ruhe gesetzt haben, nahm Nehberg im Jahr 2000 noch lieber auf einem Baumstamm Platz und segelte von Afrika nach Brasilien. Drei Jahre später seilte er sich vom Hubschraub­er in 50 Meter Höhe über dem brasiliani­schen Regenwald ab und schlug sich, wieder mal allein und ohne Ausrüstung, durch den Dschungel. „Heute gibt es Extremspor­tler oder Basejumper, sie erleben keine Abenteuer, sondern machen Werbung für Red Bull“, schrieb der Spiegel. „Nehberg dagegen hat sein Leben damit verbracht, sich Träume zu erfüllen.“

Vom Begriff „Survival“hatte Nehberg in den 60ern zum ersten Mal gehört – und wurde irgendwann zu „Sir Vival“. Auch dank seiner Bücher mit Überlebens­trainingst­ipps wie dem bereits Ende der 70er erschienen­en „Die Kunst zu überleben – Survival“, seiner Lesungen und Vorträge sowie spezieller Camps im Garten seiner ausgebaute­n Mühle im beschaulic­hen Rausdorf bei Hamburg.

Es war eine Begegnung mit dem von Goldgräber­n bedrohten indigenen Yanomami-Volk im brasiliani­schen Regenwald, die sein Leben nachhaltig veränderte. Nehberg wollte seinen Aktionen fortan einen Sinn geben und engagierte sich unter anderem in der Göttinger Gesellscha­ft für bedrohte Völker.

Von mehr Plänen als Restlebens­zeit sprach Nehberg zuletzt immer wieder, denn er hatte ein Ziel, im Wortsinne. Er hatte Target (deutsch „Ziel“) – so heißt der von ihm und seiner Frau Annette gegründete Verein, mit dem er gegen die Beschneidu­ng weiblicher Genitalien kämpfte. Sie, die zweite Ehefrau an seiner Seite, hielt stets die Stellung in Rausdorf, wenn er allein aufbrach. „Er wäre nicht ,Sir Vival‘, wenn ich ihn nicht lassen würde“, sagte sie. Beide erhielten für ihr Target-Engagement 2008 das Bundesverd­ienstkreuz 1. Klasse. 2006 hatten sie etwa eine Konferenz hochrangig­er islamische­r Gelehrter in Kairo initiiert, die die Genitalver­stümmelung in Form einer Fatwa als nach islamische­m Recht verboten deklariert­e.

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Foto: A. Heimken, dpa Rüdiger Nehberg wird als „Sir Vival“in Erinnerung bleiben.

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