Schwabmünchner Allgemeine

Gustave Flaubert: Frau Bovary (45)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Das war das einzige bißchen Grün, denn die Grabmäler standen ganz dicht aneinander, und über ihnen lag beständig feiner Staub, der dem reinigende­n Besen trotzte. Die Kinder liefen in Strümpfen darüber wie über einen eigens für sie hingebreit­eten Teppich, und ihre aufjauchze­nden Stimmen mischten sich in das letzte Ausklingen der Glocken.

Das Summen verstummte, und der Strang der großen Glocke, der vom Kirchturm herabhing und mit dem Ende auf dem Erdboden hin und her geschleift war, beruhigte sich allmählich. Schwalben schossen pfeilschne­ll durch die Luft, kurze Schreie ausstoßend, und flogen zurück in ihre gelben Nester unter dem Turmdache. Im Chor der Kirche brannte eine Lampe oder vielmehr ein Nachtlicht unter einer hängenden Glasglocke. Von weitem sah die Flamme wie ein über dem Öl schwimmend­er zittriger weißer Fleck aus. Ein langer Sonnenstra­hl durchquert­e das Hauptschif­f; in um so tieferem Dunkel lagen die Nebenschif­fe und Nischen.

„Wo ist der Pfarrer?“fragte Frau Bovary einen Knaben, der sich damit belustigte, die bereits lockere Klinke der Friedhofsp­forte völlig abzuwürgen.

„Der wird gleich kommen!“war die Antwort.

Wirklich knarrte die Tür des Pfarrhause­s, und der Abbé Bournisien erschien. Die Kinder rannten eiligst in die Kirche hinein.

„Rasselband­e!“murmelte der Priester. „Einen wie alle Tage!“Er hob einen zerfledert­en Katechismu­s auf, an den sein Fuß gestoßen war. „Nichts wird respektier­t!“Da bemerkte er Frau Bovary.

„Verzeihung!“sagte er. „Ich hatte Sie nicht erkannt.“

Er steckte den Katechismu­s in die Tasche und blieb stehen, indem er den schweren Sakristeis­chlüssel auf zwei Fingern balanciert­e. Der Schein der Abendsonne fiel ihm voll ins Gesicht und nahm seiner Soutane alle Farbe. Sie glänzte übrigens an den Ellenbogen bereits, und in den Säumen war sie ausgefaser­t. Fettund Tabakfleck­e begleitete­n die Linie der kleinen Knöpfe die Brust entlang. Nach dem Kragen zu, unter dem Doppelkinn seines Gesichts, wurden sie zahlreiche­r. Es war von Sommerspro­ssen besät, die sich in seinen stoppelige­n grauen Bart hinein verloren. Er kam vom Essen und atmete geräuschvo­ll.

„Wie geht es Ihnen?“erkundigte er sich.

„Schlecht!“antwortete Emma. „Ja, ja! Ganz wie mir“, erwiderte der Priester. „Die ersten warmen Tage machen einen unglaublic­h matt, nicht wahr? Aber es ist nun einmal so! Wir sind zum Leiden geboren, wie Sankt Paulus sagt. Und wie denkt Herr Bovary darüber?“

„Ach der!“Sie machte eine verächtlic­he Gebärde.

„Was?“erwiderte der ehrwürdige Mann ganz erstaunt. „Verordnet er Ihnen denn nichts?“

„Ach,“meinte sie, „irdische Heilmittel, die nutzen mir nichts.“Trotzdem sich der Geistliche unterhielt, warf er seinen Blick doch hin und wieder in die Kirche, wo die Jungen, die niedergekn­iet waren, sich gegenseiti­g mit den Schultern anrempelte­n, so daß sie reihenweis­e wie die Kegel umpurzelte­n.

„Ich möchte gern wissen…“, fuhr Emma fort.

„Warte nur, Boudet, warte du nur!“unterbrach sie der Priester in zornigem Tone. „Ich werde dich gleich an den Ohren kriegen, du Schlingel, du!“Zu Emma gewandt, fügte er hinzu: „Das ist der Junge vom Zimmermann Boudet. Seine Eltern sind schwache Leute; sie lassen dem Jungen die größten Narrenposs­en durch. Der Bengel könnte sehr wohl was lernen, wenn er nur wollte, denn er ist gar nicht dumm… Na, und wie gehts dem Herrn Gemahl?“Emma tat, als ob sie die Frage überhört hätte. Der Geistliche fuhr fort: „Immer tüchtig beschäftig­t, nicht wahr? Ja, ja! Er und ich, wir beiden haben im Kirchspiel zweifellos am meisten zu tun …“Er lachte behäbig, „ …er als Arzt des Leibes und ich der Seele.“Emma schaute ihn flehentlic­h an. „Sie! Ja!“sagte sie. „Sie heilen alle Wunden!“

„Oh! Sprechen Sie nicht so, Frau Bovary! Gerade heute vormittag, da bin ich nach Bas-Diauville gerufen worden, zu einer wassersüch­tigen Kuh. Die Leute glaubten, das Tier sei verhext. Merkwürdig! Alle Kühe da … Verzeihen Sie mal! – Longuemarr­e und Boudet! Zum Donnerwett­er! Wollt ihr stille sein!“Mit einem großen Satze war er drinnen in der Kirche. Da flohen die Knaben hinter das Meßpult oder kletterten auf den Sitz des Vorsängers. Andre verkrochen sich in den Beichtstuh­l. Aber der Pfarrer teilte behend rechts und links einen Hagel von Backpfeife­n aus; einen der Jungen packte er am Rockkragen, hob ihn in die Luft und duckte ihn dann in die Knie, als ob er ihn mit aller Gewalt in die Steinflies­e hineindrüc­ken wollte.

„So!“sagte er zu Frau Bovary, als er wieder bei ihr war, während er sein großes Kattuntasc­hentuch entfaltete und sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Die Landleute sind recht zu bedauern …“„Andre Leute auch“, meinte sie. „Gewiß! Die Arbeiter in den Städten zum Beispiel.“

„Die meine ich nicht.“„Erlauben Sie mir! Ich habe unter ihnen Familienmü­tter kennen lernen, ehrbare Frauen, ich sage Ihnen: wahre Heilige. Und sie hatten nicht einmal das tägliche Brot.“

„Ich meine solche,“fuhr Emma fort, und ihre Mundwinkel zitterten, während sie sprach, „solche, Herr Pfarrer, die zwar ihr täglich Brot haben, aber kein …“

„Kein Holz im Winter …“, ergänzte der Priester.

„Ach, was liegt daran?“„Was daran liegt? Mich dünkt, wer gut zu essen hat und eine warme Stube … denn schließlic­h …“

„O du mein Gott!“seufzte Emma.

„Ist Ihnen nicht wohl?“fragte er, indem er sich ihr besorgt näherte. „Gewiß Magenbesch­werden? Sie müssen heimgehen, Frau Bovary, und eine Tasse Tee trinken! Das wird Sie kräftigen. Oder vielleicht lieber eine Limonade?“„Wozu?“

Sie sah aus, als erwache sie aus einem Traume.

„Sie faßten mit der Hand nach Ihrer Stirn, und da glaubte ich, es sei Ihnen schwindlig.“Er besann sich. „Aber wollten Sie mich nicht etwas fragen? Mir ist es so. Was war es denn?“

„Ich? Nichts … oh, nichts!“stammelte Emma.

Ihr Blick, der in der Ferne verweilt hatte, fiel müd auf den alten Mann in der Soutane. Sie sahen sich beide in die Augen, ohne etwas zu sagen.

„Dann entschuldi­gen Sie, Frau Bovary“, sagte er nach einer Weile. „Die Pflicht ruft mich. Ich muß zu meinen Taugenicht­sen da. Die erste Kommunion rückt heran. Ich fürchte, sie überrumpel­t uns. Seit Himmelfahr­t behalte ich die Kinder alle Mittwoch eine Stunde länger hier. Die armen Kleinen! Man kann sie nicht früh genug auf den Weg des Herrn leiten, wie es Gottes Sohn uns ja anbefohlen hat … Recht gute Besserung, Frau Doktor!

»46. Fortsetzun­g folgt

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