Bis ganz nach oben
Die Schule Schloss Salem am Bodensee ist das berühmteste Elite-Internat Deutschlands. Ein Jahr dort kostet zehntausende Euro. Jetzt wird die Einrichtung 100 Jahre alt. Sie prägt ihre Schüler fürs Leben – nicht immer nur im Positiven
Salem Schloss Salem ist das Hogwarts von Baden-Württemberg. Einmal zum Schüler auserkoren, läuft man auf eine steinerne Mauer zu, wird verschluckt und kommt erst ein Schuljahr später wieder heraus. Was dazwischen passiert – ein streng gehütetes Geheimnis, wie bei der Zauberschule in den Harry-Potter-Büchern. Wer nicht zum illustren Zirkel gehört, stößt sich an der Mauer höchstens die Stirn, bleibt als Neugieriger zurück – und malt sich seine eigenen Geschichten aus, wie es hinter den Ziegeln zugehen mag.
Über kaum eine Schule in Deutschland gibt es so viele Gerüchte, Vorurteile und Spekulationen wie über das Internat im Bodenseekreis. Prinz Philip, Ehemann der britischen Königin Elizabeth II., hat hier gelernt. Thomas Mann schickte seine Kinder ebenso auf die Schule wie Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Und Sofia von Griechenland, später Königin von Spanien, bereitete sich in Salem auf ihr Archäologiestudium vor. An diesem Dienstag wird das bekannteste Elite-Internat Deutschlands 100 Jahre alt.
In Joanne K. Rowlings Büchern sind es magische Kräfte, die die Schultore öffnen. In der Schule Schloss Salem ist es die Kraft des Geldes. Grob zwischen 42000 und 47000 Euro kostet ein Schuljahr in Salem. Ein Viertel der Schüler sind Stipendiaten, die auch ohne betuchte Eltern dort lernen dürfen.
Elite. Das Wort interpretieren Gönner und Gegner des Salem’schen Erziehungsgedankens unterschiedlich. Die Bewunderer sehen Salem als hervorragende Ausbildungsstätte für künftige Entscheidungsträger.
Kritiker verwenden den Namen des ehemaligen Zisterzienserklosters und späteren Schlosses der Markgrafen von Baden als Synonym für die verlotterten Sitten, die ungesund viel Reichtum mit sich bringen.
Bernd Josef Westermeyer ist Schulleiter in Salem. Der dritte nach dem streithaften Bernhard Bueb, bekannt geworden als „strengster Lehrer Deutschlands“, spätestens nachdem er mit seinem Erziehungsführer „Lob der Disziplin“Mitte der Nullerjahre die Meinungen in deutschen Talkshows spaltete. Der mittlerweile 81-Jährige, der mehr als 30 Jahre im Internat das Sagen hatte, gilt vielen bis heute als das disziplinierte Gesicht Salems.
Der jetzige Chef hat die Gabe, auf Fotos gleichzeitig streng und verschmitzt zu schauen. Westermeyer schätzt Anzüge mit passender Weste und eine pragmatische Wortwahl: „Wir geben den Schülern nicht das Gefühl, sie seien etwas Besseres. Sie sollen auch Demut lernen.“In Salem hätten alle die Möglichkeit zu beweisen, „dass sie was draufhaben – und müssen sie auch“.
Bernd Westermeyer, Anfang 50, Reserveoffizier der Bundeswehr, distanziert sich gekonnt von dem „Bonzenklüngel“, der Salem oft nachgesagt wird. Er legt am Telefon noch einen drauf: „Eine Rolex oder eine Louis-Vuitton-Tasche, das ist gekaufte Identität von der Stange. Ich frage die Schüler: Was bleibt, wenn ein Mensch unbekleidet vor euch stünde?“
Elite – der Gedanke von einer auserwählten Schülerschaft ist seit dem ersten Tag Bestandteil der Geschichte Salems. Prinz Max von Baden, letzter Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs, eröffnete das Haus zusammen mit Kurt Hahn, Spross einer jüdischen Industriellenfamilie und Bildungsreformer. Zentrum seiner Erlebnispädagogik war die Annahme, Schule müsse nicht nur Wissen, sondern auch soziale Verantwortung lehren – und zwar durch Lektionen, die weit über Frontalunterricht im Klassenzimmer hinausgehen. „Die Gründer von Salem verfolgten einen Gedanken“, erklärt Westermeyer: „Wir gründen diese Schule, bilden eine gesellschaftliche Elite heran und verhindern, dass so etwas wie der Erste Weltkrieg noch einmal passiert. Es braucht Menschen, die vorangehen, um Gefahr abzuwenden.“Verantwortungselite nennt der Schulleiter das, Helden des Alltags will er ausbilden.
Weil die künftigen „Helden“, 600 Schüler aus 40 Nationen, in CoronaZeiten ebenso abgeschottet sind wie jeder Normalbürger, kann man sie nicht besuchen, an keinem der drei Schulstandorte. Schloss Salem beherbergt die jüngsten Schüler. Schloss Spetzgart und ein moderner Campus, geschaffen von preisgekrönten Architekten, liegen 15 Autominuten entfernt direkt am Bodensee. Dort lernen die Abschlussjahrgänge elf und zwölf aufs Abitur oder das englischsprachige International Baccalaureate, einen weltweit anerkannten Schulabschluss. Abschlüsse also, so heißt es auf der Schul-Homepage, für künftige Ämterträger in „all jenen Aufgaben, die sich in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Umwelt und Kultur stellen“.
Das Gerücht, dass bei der jährlichen Entlassfeier mit dem Zeugnis auch ein Büchlein mit den besten Adressen künftiger Arbeitgeber und Alt-Salemer ausgehändigt wird, flüstert zwar mancher Besucherführer den Touristen zu, die jährlich zu Tausenden das Schloss besichtigen. Bestätigt ist es natürlich nicht.
Der Youtube-Kanal der Schule gibt Einblick in den teuren Alltag in einfachen Zimmern. Die Gänge zieren die barocken Stuckarbeiten der Wessobrunner Meister, die Schülerzimmer schlichte Funktionsmöbel aus Eichenfurnier. Das kennen viele von zu Hause anders. 90-Zentimeter-Betten, aber auf dem Tisch die neuesten Business-News. Die Mensa hat den Charme eines Gemeindezentrums, doch in der Nähe liegen gleich der schuleigene Bodenseehafen, das Klubhaus für die Schulpartys und mehrere Sportplätze.
Der Schultag ist in Doppelstunden aufgeteilt, sodass meistens nur drei Fächer am Tag auf dem Stundenplan stehen. Anders als Bayern hält Baden-Württemberg bislang am achtstufigen Gymnasium fest. Doch dass der Stoff nur durchgepaukt wird, wie es bayerische Lehrer beim G8 so ausdauernd beklagt hatten, hat in Salem niemand zu befürchten. Die Lehrer leben mit den Schülern auf den einzelnen Stockwerken, sind nahezu rund um die Uhr verfügbar.
Nehmen die Schüler im Physikunterricht das Planetensystem durch, kann es vorkommen, dass der Lehrer sie um 23 Uhr in die hauseigene Sternwarte bittet. „Unser Schultag ist nach hinten offen“, sagt Schulleiter Westermeyer. Dann folgt ein Satz, der auch in seiner Festrede zur 100-Jahr-Feier vorkommen könnte: „Die wahre Elite, die wir in Salem haben, sind unsere pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das sind ganz außergewöhnliche Menschen, die sich ein Internat ausgesucht haben, obwohl sie hier weit mehr leisten müssen als an herkömmlichen Schulen.“
Die Jugendlichen – und das ist die „soziale Verantwortung“im Sinne Kurt Hahns – müssen über mindestens drei Schuljahre hinweg soziale Aufgaben übernehmen. Sie helfen in Kindergärten, Flüchtlingsheimen, Seniorenheimen oder bei der Feuerwehr. Unvergessen der Tag im Jahr 2002, als über Überlingen ein Passagierflugzeug abstürzte und auch Schüler aus Salem die Felder auf der Suche nach Leichen durchstreiften.
Einer aus der langen Liste der berühmten Salemer ist Schauspieler Oliver Mommsen. Der heute 51-Jährige, einst Bremer „Tatort“-Kommissar, entdeckte in Salem sein Schauspieltalent – als Peter Pan in einer der Schulaufführungen, für die das Internat einen eigenen Regisseur beschäftigt. „Ich habe dort meine ersten Bühnenerfahrungen gemacht“, erzählte Mommsen eben erst in einem Interview. „Damals ist das Feuer in mir angezündet worden, deshalb werde ich das nie vergessen.“
Bis zum Abschluss schaffte Mommsen, Ururenkel des im 19. Jahrhundert renommierten Altertumsforschers Theodor, es nicht. Er sei „relativ schnell rausgeflogen“, weil er Salem „mit einem Club Med verwechselt“habe. Der Name steht seit den 50er Jahren für All-inclusive-Urlaube mit allen Annehmlichkeiten. Er habe im Internat an „alles“gedacht, nur nicht an Schule und Regeln, präzisierte er einmal im Fernsehen bei „Markus Lanz“. Solche Geschichten bestätigen diejenigen, die den Elitebegriff nicht mit Verantwortungsbewusstsein gleichsetzen, sondern mit einer Art Wohlstandsverwahrlosung. Da hilft es nichts, dass der Schauspieler betonte, seine ganze Familie habe für die Ausbildung gespart.
Schauergeschichten rund um Salem gibt es viele. Man findet sie als Internatsromantik in „Burg Schreckenstein“, deren Autor Oliver Hassencamp in den 1930er Jahren selbst Salem besuchte und es als Vorlage für seine Bücher nahm. Viele Jahrzehnte später dringen allerdings auch immer wieder Drogengerüchte nach außen. Im Internet berichtet eine Ehemalige: „Es war eine hohle Disziplin. (...) Es ging nur um Party und Saufen.“
Auch der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht verarbeitet seine Salem-Erfahrung öffentlich. Sein Spielfilm „Finsterworld“beschreibt die nur vermeintlich schillernde Parallelwelt reicher Internatsschüler. In einem Interview zu seinem Debütroman „Faserland“, in dem sich einzelne Protagonisten explizit aus Salem kennen, sagte Kracht: „Salem gibt sich nur elitär und Upperclass.“Heute ist sein Buch ein Standardwerk der Popliteratur. 2013 war es in niedersächsischen Schulen Pflichtlektüre fürs Abitur.
Schulleiter Westermeyer kennt die Gerüchte und will sich nicht zu einzelnen äußern. „Die Schule hat diejenigen, die hier waren, geprägt – durch glückliche, aber auch durch unglückliche Momente. Eine ,beste Schule der Welt‘ existiert nicht, und auch Salem ist nicht für jeden Schüler das Paradies.“Man finde in der Schulgeschichte Salems beides – Licht und Schatten. „Ich bin der Auffassung, dass die Schule mit beidem leben kann und sich zugleich mit Licht und Schatten auseinandersetzen muss.“
Sich selbst feiern – das wollten die Schüler und Ehemaligen von Schloss Salem in diesem April. Doch das Coronavirus konnten auch die künftigen und ehemaligen „Helden des Alltags“nicht stoppen. Die 1000 Porzellanmedaillen, die die Salemer Manufaktur extra für die 100-JahrFeier gefertigt hatte, bleiben erst mal in ihren Schatullen. Der Morgenlauf, den ein Großteil der Festgäste noch aus der eigenen Zeit in Salem kennt, entfällt. Der Festredner, BadenWürttembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, muss seine Rede zurück in die Schreibtischschublade packen. Der Festakt ist auf Pfingsten 2021 verschoben.
Viele Jugendliche sind am Jubiläumstag trotzdem da – gezwungenermaßen. „Bei uns lernen Schüler, die im Moment einfach nicht nach Hause können – aus China zum Beispiel oder aus dem Iran“, erklärt Bernd Westermeyer. Das Coronavirus sei „eine der größten Herausforderungen in der 100-jährigen Geschichte von Salem“. Trotzdem sieht er darin eine Chance für die Bildungspolitik: „Es wäre die Gelegenheit, auf den Tisch zu hauen und zu sagen: In Zukunft wird Bildung so organisiert, dass alle Kinder dieselben Bedingungen haben.“
Das klingt wie aus der Fantasiewelt der Harry-Potter-Bücher.
„Wir geben den Schülern nicht das Gefühl, sie seien etwas Besseres.“Schulleiter Westermeyer