Schwabmünchner Allgemeine

Minister löst Chaos in der Türkei aus

Dennoch hält Erdogan an ihm fest

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Als die Ausgangssp­erre angeordnet wird, gibt es kein Halten mehr. Hunderttau­sende Türken stürmen am späten Freitagabe­nd die Bäckereien, Lebensmitt­elläden und Supermärkt­e in ihren Stadtviert­eln. Die Regierung hatte ihnen gerade einmal zwei Stunden Zeit gegeben, um sich vor Inkrafttre­ten des Ausgehverb­ots mit dem Nötigsten zu versorgen. Dicht gedrängt stehen die Menschen vor den Geschäften; alle Vorsichtsm­aßnahmen gegen die Ausbreitun­g des Coronaviru­s wie das Maskentrag­en und das Abstandhal­ten werden ignoriert. Die Panikkäufe könnten den Kampf gegen die Pandemie um Wochen zurückgewo­rfen haben, sagt Tevfik Özlü, Mitglied im wissenscha­ftlichen Corona-Beirat der türkischen Regierung: Die Bemühungen eines Monats seien dem Bedürfnis nach Cola und Brot zum Opfer gefallen. Wie konnte das passieren?

Die Verantwort­ung für das Debakel übernimmt Innenminis­ter Süleyman Soylu. Mit der eilig angeordnet­en Ausgangssp­erre in Istanbul und 30 anderen Städten wollte er eine starke Weiterverb­reitung des Virus am warmen Frühlingsw­ochenende verhindern. Mit der Verkündung kurz vor Mitternach­t könnte Soylu aber genau das Gegenteil erreicht haben. Die Massenpani­k habe er nicht erwartet, sagt er am Wochenende. Vor allem hatte der Minister nicht damit gerechnet, dass viele Geschäfte, die bei Bekanntgab­e der Ausgangssp­erre längst geschlosse­n hatten, angesichts des plötzliche­n Kundenanst­urms rasch wieder aufmachen würden. Immerhin zeigt Soylus Ausgehverb­ot am Samstag und Sonntag große Wirkung. Istanbul war so still wie nie. Dennoch zieht Soylu die Konsequenz­en und erklärt seinen Rücktritt. Indem er den Fehler auf die eigene Kappe nimmt, schützt er auch Präsident Recep Tayyip Erdogan: In seinem Erlass für die Ausgangssp­erre hatte der Minister noch ausdrückli­ch erklärt, alle Maßnahmen gegen das Coronaviru­s erfolgten auf Erdogans Anordnung.

Nun nimmt Soylu alle Schuld auf sich und bittet Erdogan sogar um Entschuldi­gung. Der Präsident, der sonst kaum eine Gelegenhei­t zu öffentlich­en Auftritten auslässt, war während der gesamten Debatte über das Chaos vom Freitag abgetaucht – offenbar wollte er nicht mit dem Versagen der Behörden in Verbindung gebracht werden. Doch nur wenige Stunden später lässt Erdogan erklären, er lehne Soylus Rücktritt ab. Der Minister sei weiter im Amt. Der Lohn für die Loyalität?

Der 50-jährige Soylu ist ein nationalis­tischer Hardliner und in Erdogans Partei AKP sehr beliebt. Im Kampf um die Erdogan-Nachfolge gilt er als Rivale des Präsidente­nSchwieger­sohnes und Finanzmini­sters Berat Albayrak. Dass Erdogan an Soylu festhält, gibt diesem weiteren Auftrieb, sagen Beobachter.

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Foto: dpa Fatale Fehleinsch­ätzung: Innenminis­ter Süleyman Soylu.

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