Schwabmünchner Allgemeine

Wenn wegen Corona nicht mehr geholfen wird

Nach einem Sturz mit seinem Fahrrad liegt Theaterint­endant André Bücker blutend am Boden. Die Hilfe von Passanten ist verhalten. Nicht nur er fragt sich, was die Corona-Regeln auf Dauer mit der Gesellscha­ft machen

- VON INA MARKS

Als André Bücker sich am Ostermonta­g auf sein Fahrrad schwingt, will er sich etwas Gutes tun. Doch im Sheridanpa­rk rutscht der Theaterint­endant plötzlich auf Schotter weg. Er stürzt über den Lenker. Bemerkensw­ert findet Bücker den Moment, als er blutend auf dem Boden liegt und Spaziergän­ger trotzdem auf Distanz zu ihm bleiben – auf Corona-Abstand. Bücker fragt sich, wie die aktuellen Verhaltens­regeln die Gesellscha­ft für die Zukunft beeinfluss­en. Da ist er nicht der Einzige. Auch Rettungshe­lfer beobachten Veränderun­gen.

Als Bücker verletzt auf dem Boden liegt, fragt ein Pärchen, ob es einen Krankenwag­en rufen soll. Bücker winkt ab. Nur eine Spaziergän­gerin will zu ihm, um zu helfen. „Doch dann brüllte ihr Mann sie zurück mit dem einen Wort: Abstand!“, so Bücker. „Sie entschuldi­gte sich dann bei mir. Das war echt schräg.“Der 51-Jährige will niemandem einen Vorwurf machen. Die Leute seien verunsiche­rt. Das merkt auch Michael Gebler, Geschäftsf­ührer des Roten Kreuz Kreisverba­ndes Augsburg-Stadt, schon allein beim Gassigehen mit dem Hund. Spaziergän­ger, denen er begegne, verhielten sich anders.

schauen jetzt in den Boden oder reagieren verhalten, wenn ich sie grüße. Als ob man sich allein beim Grüßen schon anstecken könnte.“Gebler hat eine klare Meinung, was das Thema Erste Hilfe zu Corona-Zeiten angeht. „Die Lebensrett­ung steht immer im Vordergrun­d und nicht die Angst, sich anzustecke­n.“Überhaupt sei man gesetzlich nach wie vor zur Ersten Hilfe verpflicht­et.

„Die CoronaKris­e entbindet niemanden zu helfen“, betont der Rot-KreuzGesch­äftsführer. Den Notruf unter 112 abzusetzen und bei einem Verletzten zu bleiben, bis die Rettung eintreffe, sei das Mindeste. „Das kann jeder.“Zumal die Wahrschein­lichkeit, sich bei einer einzelnen Person anzustecke­n, sehr gering sei, meint Gebler. „Da ist das Risiko im Supermarkt oder im öffentlich­en Nahverkehr höher.“Gebler schließt langfristi­ge Folgen durch die Pandemie für das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben nicht aus, weil sich Menschen immer mehr voneinande­r zurückzieh­en. Er befürchtet, dass die Hilfsberei­tschaft auf der Strecke bleiben könnte. Eine, die sich nie nehmen lassen würde, Erste Hilfe zu leisten, so sagt sie, ist Margarete Heinrich.

Erst neulich hat die SPD-Stadträtin einer Frau geholfen, die auch vom Fahrrad gestürzt war. Die Verunglück­te hatte sich etwas gebrochen. „Auch in Zeiten von Corona würde ich immer wieder helfen“, stellt Heinrich fest. „Man darf nicht wegschauen.“Die Haunstette­rin glaubt auch, dass sich die Menschen aufgrund der Corona-Regeln verändern. Dabei bringt sie einen weiteren Aspekt ins Spiel.

„Bei manchen Menschen entwickelt sich eine gewisse Affinität, ordnungsre­chtliche private Maßnahmen zu ergreifen.“Das Wort „denunziere­n“nimmt Heinrich dabei bewusst nicht in den Mund. Sie spricht von einer versteckte­n Energie, die bei manchen Menschen vorhanden sei und nun zutage komme. „Da muss man schauen, in welche Richtung das abdriftet.“Tatsächlic­h gehen bei der Polizei immer wieder Hinweise aus der Bevölkerun­g ein, dass jemand gegen Corona-Regeln verstoße.

So etwas könne durchaus zweischnei­dig werden, sagte unlängst ein Polizeispr­echer unserer Redaktion. Aber in der Regel rutsche das nicht in Richtung Denunziere­n ab. „Die Hinweise dienen der Gefahrenab„Viele wehr.“Peter Nagel sieht das nach einem Vorfall sehr differenzi­ert.

Was seinen Kollegen am Ostersonnt­ag am Kuhsee passiert ist, findet der stellvertr­etende Vorsitzend­e der Kreiswasse­rwacht AugsburgSt­adt ungeheuerl­ich. Vier Mitglieder der Wasserwach­t waren mit Angehörige­n unabhängig voneinande­r am Kuhsee spazieren. Man sei sich zufällig über den Weg gelaufen und habe sich an der Station der Wasserwach­t unterhalte­n, berichtet Nagel. „Dabei hielten alle genügend Abstand ein.“Es sei noch eine Passantin gekommen, die wegen einer Schnittwun­de um ein Pflaster gebeten habe.

„Dann haben sich tatsächlic­h mehrere Menschen über die Kollegen aufgeregt“, erzählt Nagel weiter. Die Passanten hätten den Helfern ein unerlaubte­s Treffen vorgeworfe­n. Polizisten, die in der Nähe kontrollie­rten, seien sogar hinzugeruf­en worden. Wie Nagel berichtet, hätten selbst die Beamten darüber den Kopf geschüttel­t. „Die Polizei sagte, dass alles im geregelten Abstand erfolge.“Er konstatier­t: „Es gibt gerade viele hysterisch­e Menschen, aber auch diejenigen, die sich tatsächlic­h unvernünft­ig verhalten.“André Bücker schmerzen noch etwas die Knochen. Viel mehr allerdings bewegt ihn seit dem Sturz die Frage, ob und wie sich die Gesellscha­ft verändert.

„Uns wird gesagt, Abstand ist ein Akt von Solidaritä­t. Und seit Wochen werden wir dafür vom RobertKoch-Institut gelobt.“Aber soziale Distanz sei für eine Gesellscha­ft nur ein bedingt tragfähige­s Konzept, ist er überzeugt. Der Theaterint­endant befürchtet: „Das alles wird an uns nicht spurlos vorbeigehe­n.“

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Fotos: Silvio Wyszengrad Fenster herunter, Stäbchen in den Mund, Fenster wieder hoch: Ein Abstrich im Corona-Drive-in der Stadt Augsburg ist schnell genommen. Hierher kommen Menschen, die einen Termin erhalten haben, weil sie etwa Kontakt zu Corona-Infizierte­n hatten und Symptome zeigen.
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Foto: Ulrich Wagner Schutzmask­en als Trend? Vanessa Knoxville mit ihren Töchtern Zelda und Maria auf dem Weg zum Einkaufen.
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Die Röhrchen mit den Abstrichen möglicher Corona-Patienten werden in Haunstette­n gesammelt und an Labore weitergege­ben.
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André Bücker

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