150 Tage will Paul Verhaegh nicht mehr warten
Nach dem abrupten Saisonende mit Twente Enschede wird der ehemalige Kapitän des FC Augsburg seine Profikarriere mit 36 Jahren beenden. Warum sein Herz immer noch am FCA hängt
Als Paul Verhaegh am Dienstagabend um 19 Uhr die Fernsehansprache des niederländischen Premiers Mark Rutte in Sachen Corona-Epidemie verfolgte, da wurde der ehemalige Fußballprofi des FC Augsburg, der seit Sommer beim niederländischen Erstligisten FC Twente Enschede spielt, auf dem falschen Fuß erwischt. Das passierte dem Rechtsverteidiger in seiner Karriere bisher nicht so oft. Doch als Rutte in der Pressekonferenz verkündete, dass alle genehmigungspflichtigen Veranstaltungen bis zum 1. September verboten seien und dies auch für Fußballspiele ohne Publikum gelte, zuckte Verhaegh zusammen. Und der Premier wurde noch deutlicher: „Kein Profifußball bis zum 1. September.“
„Mehr weiß ich leider auch nicht. Der Verein hat uns mitgeteilt, dass wir nächste Woche neue Informationen bekommen werden“erklärte der Fußballprofi am Telefon. „Da müssen sich der Verband und die Vereine auch erst absprechen, was nun passiert“, sagt Verhaegh ratlos.
Bisher waren die ganzen Planungen darauf ausgelegt, dass die Eredivisie rund um den 1. Juni ihren Spielbetrieb wieder aufnehmen würde. „Wenn wie geplant ab 1. Juni gespielt worden wäre, hätte ich die Saison zu Ende gemacht. Aber wenn der Termin 1. September bleibt, wären das 150 oder 160 Tage bis zum nächsten Pflichtspiel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich unter diesen Umständen noch eine Saison dranhänge“, sagt Verhaegh. Es deutet also alles darauf hin, dass der 36-Jährige nach 17 Jahren nach dem Abbruch der Saison seine Profikarriere beenden wird.
Am 7. März absolvierte er mit Twente sein bisher letztes Spiel. Enschede verlor bei Vitesse Arnheim 0:1. Paul Verhaegh wurde in der 86. Minute eingewechselt. Es war der 26. Spieltag. Danach wurde die Eredivisie abgebrochen, die Spieler wurden nach Hause geschickt.
„Ich trainiere jetzt schon über fünf Wochen alleine. Über eine App bekommen wir unser individuelles Programm“, erzählt der Familienvater. Auch in den Niederlanden herrschen Ausgangsbeschränkungen, sind die Schulen noch geschlossen. Bisher hatte Verhaegh diszipliniert durchgehalten, immer mit dem Ziel 1. Juni. In der Eredivisie war die Front für eine Fortsetzung der Saison längst nicht so geschlossen wie in der Bundesliga. Spitzenklubs wie Ajax Amsterdam, PSV Eindho
oder AZ Alkmaar hatten plädiert, die Saison vorzeitig zu beenden. Der niederländische Verband KNVB präferierte eine Fortsetzung, wollte ursprünglich die restlichen Spielrunden ohne Publikum austragen. Jetzt hat der niederländische Premier Fakten geschaffen.
Wie es weitergeht, wer Meister wird, wer absteigt, oder ob die Liga aufgestockt werden wird, soll am Freitag beraten werden. Unklar ist auch, wie die Zeit bis zum Start der neuen Saison überbrückt werden soll. Laut der Tageszeitung De
Volkskrant soll die Spielzeit 2020/21 erst am 1. Oktober beginnen. Viele Klubs stehen vor finanziellen Problemen, weshalb mit den Profis über einen Gehaltsverzicht gesprochen werden soll. Einige Klubs, wie auch der Verein von Paul Verhaegh, haben schon reagiert. Twente Enschede hat über ein Dutzend Spieler und dem Trainer vorsichtshalber fristgerecht zum 31. Juni gekündigt. Auch Verhaegh, der erst im Sommer einen Einjahresvertrag unterschrieben hatte, ist wohl ab dem 1. Juli vereinslos. Deshalb macht sich der zweifache Familienvater Gedanken seine Zukunft. „Es ist schon komisch, denn normalerweise beschäftigt sich der Verein jetzt mit den Planungen für die kommende Saison. Das ruht“, sagt er. Noch schafft es der 36-Jährige nicht, sein Karriereende offiziell zu verkünden. Mit einem Vier-Minuten-Einsatz irgendwo im Niemandsland der Saison – so einfach und trostlos will der ehemalige Nationalspieler, der mit den Niederlanden 2014 WM-Dritter wurde, eigentlich nicht abtreten. Verhaegh: „Ich muss das alles erst einmal sacken lassen und auf offizielle Informationen warten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich aufhöre, wird natürlich größer.“
2003 wechselte Paul Johannes Gerardus Verhaegh von der Jugendabteilung des PSV Eindhoven zum damaligen Zweitligisten AGOVV Apeldoorn. Sein erstes Punktspiel in der Eredivisie bestritt er dann im August 2004 für den FC Den Bosch. So richtig in Gang kam seine Karriere aber erst, als er 2010 von Vitesse Arnheim zum damaligen Zweitligisten FC Augsburg wechselte. Trainer Jos Luhukay hatte ihn neben Marcel de Jong, Nando Rafael, Gibril Sanven koh und Kees Kwakman aus den Niederlanden geholt.
Letzter entpuppte sich als Flop, doch alle anderen erwiesen sich als Verstärkungen und am Ende seiner ersten Saison feierte Verhaegh mit dem FCA den historischen Bundesliga-Aufstieg auf dem Rathausplatz. Es war der erste Höhepunkt einer langen Liebesbeziehung. „Ich bin nicht umsonst sieben Jahre in Augsburg geblieben. Es war privat und sportlich meine schönste Zeit.“Verhaegh entwickelte sich beim FCA zu einer Stütze, wurde Kapitän und Gesicht einer Mannschaft, die über Jahre durch besondere Charaktere wie Sascha Mölders, Halil Altintop, Marwin Hitz, Simon Jentzsch und vor allem Verhaegh geprägt war. Die rechte Abwehrseite schien ohne den FCA-Kapitän lange Jahre nicht vorstellbar.
Er feierte mit dem FCA die Nichtabstiege genauso wie die rauschenden Europa-League-Abende gegen Alkmaar, Belgrad, Bilbao und Liverpool. Und in Augsburg wurde er Nationalspieler. Bondscoach Louis van Gaal nahm ihn überraschend mit zur WM 2014 nach Braum silien. Als soliden Back-up, als einen Ersatzspieler, auf den Verlass war. Niederlande wurde Dritter, Verhaegh spielte im Achtelfinale gegen Mexiko 56 Minuten. Von der Zweitklassigkeit zum WM-Teilnehmer. „Wir hatten beim FCA eine super Truppe mit super Jungs. Augsburg bleibt meine Nummer eins“, sagt Verhaegh in diesem so unwirklich wirkenden Frühling 2020.
Und trotzdem verließ er den FCA im August 2017 und wechselte zum VfL Wolfsburg. Es war eine Winwin-Situation für alle. Verhaegh hatte zwar noch ein Jahr Vertrag, doch in Wolfsburg bot sich eine einmalige Chance. „Ich war 33 und hatte die Möglichkeit in Wolfsburg noch einen Zweijahresvertrag zu unterschreiben“, erzählt er. „Es war noch einmal etwas Neues, für mich war in dem Moment klar, dass ich noch einen neuen Reiz wollte. Das Sportliche, aber auch der finanzielle Teil waren sehr interessant.“
Verhaegh verdiente deutlich mehr als beim FCA. Der kassierte noch rund 1,5 Millionen Euro Ablöse und der VfL hatte in einer sportlich unruhigen Zeit – man hatte erst in der Relegation die Klasse gehalten – einen verlässlichen Routinier an Bord geholt. Im ersten Jahr zählte Verhaegh unter den Trainern Andries
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich unter diesen Umständen noch eine Saison dranhänge“
Paul Verhaegh am Mittwoch nach der Absage der Eredivisie
„Ich bin nicht umsonst sieben Jahre in Augsburg geblieben. Es war privat und sportlich meine schönste Zeit.“
Paul Verhaegh zum FCA
Jonker, Martin Schmidt und Bruno Labbadia zum Stammpersonal und absolvierte 31 Ligaspiele. Sportlich war es aber wieder eine Rettung in letzter Sekunde. In der erfolgreichen Relegation gegen Holstein Kiel fehlte Verhaegh allerdings verletzungsbedingt.
Doch im zweiten Jahr erkaltete das Verhältnis zu Trainer Bruno Labbadia, der vor wenigen Tagen Hertha BSC übernahm. Verhaegh spielte kaum noch. „Ich habe mich immer wieder angeboten, aber der Trainer hat immer wieder andere Entscheidungen getroffen“, sagt Verhaegh heute. Vor dem 30. Spieltag eskalierte die Situation. Verhaegh wurde suspendiert: „Ich habe damals nicht darüber geredet und tue es heute nicht. Nur so viel: Ich habe mich mit dem Trainer ausgesprochen und wir haben die Sache aus der Welt geschafft.“
Verhaegh kehrte nach zehn Jahren in seine Heimat zurück. Twente schien ein spannendes Projekt, doch Verhaegh hatte mit Verletzungen zu kämpfen und jetzt mit einem schier unbesiegbaren Gegner. Es deutet alles darauf hin, dass Paul Verhaeghs Karriere am 7. März endete. Einfach so, gestoppt vom Coronavirus, verkündet von Ministerpräsident Rutte.