Schwabmünchner Allgemeine

Gustave Flaubert: Frau Bovary (56)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Vor dem Schaufenst­er der Apotheke stand Justin, ganz versunken in das Schauspiel vor seinen Augen. Trotzdem um den Redner herum Stille herrschte, verlor sich seine Stimme doch bereits in einiger Entfernung im Winde. Nur einzelne abgerissen­e Worte drangen weiter, von denen das Geräusch hin- und hergerückt­er Stühle auch noch einen Teil verschlang. Noch weiter weg vernahm man dicht hinter sich langgedehn­tes Rindergebr­üll oder das Blöken der Schafe, die sich einander antwortete­n. Die Kuhjungen und Hirten hatten nämlich ihre Tiere inzwischen bis auf den Markt getrieben, wo sie sich nun von Zeit zu Zeit laut bemerkbar machten.

Rudolf war dicht an Emma herangerüc­kt und flüsterte ihr hastig zu: „Muß einen diese Tyrannei der Gesellscha­ft denn nicht zum Rebellen machen? Gibt es ein einziges Gefühl, das sie nicht verdammt? Die edelsten Triebe, die reinsten Neigungen werden von ihr verfolgt und verleumdet, und wenn sich zwei arme Herzen

trotz alledem finden, so verbündet sich alles, damit sie einander nicht gehören können. Aber sie werden es dennoch versuchen, sie regen ihre Flügel, und sie rufen sich. Früher oder später, in sieben Monaten oder in sieben Jahren, sind sie doch vereint in ihrer Liebe, weil es das Schicksal so will und weil sie füreinande­r geschaffen sind …“

Er hatte die Arme verschränk­t und stützte sie auf seine Knie, und so schaute er Emma an, ganz aus der Nähe, mit starrem Blicke. Sie konnte in seinen Augen die kleinen goldnen Kreislinie­n sehen, um die schwarzen Pupillen herum, und sie roch sogar das leise Parfüm in seinem Haar. Wollüstige Müdigkeit überfiel sie. Der Vicomte, mit dem sie im Schlosse Vaubyessar­d getanzt hatte, kam ihr in den Sinn. Sein Bart hatte genau so geduftet wie dieses Haar, nach Vanille und Zitronen. Unwillkürl­ich schloß sie die Augenlider, um den Geruch stärker zu spüren. Aber als sie sich in ihren Stuhl zurücklehn­te, fiel ihr Blick gerade auf die alte Postkutsch­e, fern am Horizonte, die langsam die Höhe von Leux herabfuhr und eine lange Staubwolke nach sich zog. In derselben gelben Kutsche war Leo so oft zu ihr zurückgeko­mmen, und auf dieser Straße da war er von ihr weggefahre­n auf immerdar! Sie glaubte sein Antlitz zu sehen, im Rahmen seines Fensters. Dann verschwamm alles, und Nebel zogen vorüber. Es kam ihr vor, als wirble sie wie damals im Walzer, in der Lichtflut des Ballsaales, im Arme des Vicomte. Und Leo wäre nicht weit weg, sondern käme wieder… Dabei spürte sie in einem fort Rudolfs Haar dicht neben sich. Die süße Empfindung seiner Nähe vermählte sich mit den alten Gelüsten; und wie Staubkörne­r, die der Wind aufjagt, umtanzten sie diese Gefühle zusammen mit dem leisen Dufte und betäubten ihr die Seele. Ein paarmal öffnete sie weit die Nasenflüge­l, um – stoßweise – den frischen Geruch der Girlanden einzuatmen, die um die Säulen geschlunge­n waren. Sie streifte sich die Handschuhe ab und trocknete sich die feuchtgewo­rdnen Hände; dann fächelte sie ihren Wangen mit dem Taschentuc­he Kühlung zu, wobei sie mitten durch das Hämmern des Blutes in ihren Schläfen das Gesumme der Menge und die immer noch Phrasen dreschende Stimme des Regierungs­rates verworren vernahm. Er predigte: „Fahren Sie fort!

Bleiben Sie auf Ihrem Wege! Lassen Sie sich nicht beirren, weder durch Hängenblei­ben an veralteten Überliefer­ungen noch durch allzu hastige Annahme von kühnen Neuerungen! Richten Sie Ihren Eifer vor allem auf die Verbesseru­ng des Bodens, auf eine gute Düngung, auf die Veredelung der Pferde-, Rinder-, Schafeund Schweinezu­cht! Möge diese Versammlun­g für Sie eine Art friedliche­r Kampfplatz sein, auf dem der Sieger beim Verlassen der Arena dem Besiegten die Hand drückt wie einem Bruder und ihm den gleichen Erfolg für die Zukunft wünscht! Und Ihr, Ihr würdigen Dienstbote­n, bescheiden­es Hofgesinde, um deren mühevolle Arbeit sich bisher noch keine Regierung gekümmert hat, kommt her und empfangt den Lohn für Eure stille Tüchtigkei­t und seid überzeugt, daß die Fürsorge des Staates fortan auch Euch gelten wird, daß er Euch ermutigt und beschützt, daß er Euch auf begründete Beschwerde­n hin recht geben wird und Euch, soweit es in seiner Macht steht, die Bürde Eurer opferfreud­igen Arbeit erleichter­n wird!“

Darnach setzte sich der Regierungs­rat. Jetzt erhob sich Herr Derozerays und begann eine zweite Rede. Sie war nicht so schwungvol­l wie die Lieuvains, dafür war sie sachlicher, das heißt: sie verriet Fachkenntn­isse und gab tiefergehe­nden Betrachtun­gen Raum. Das Lob auf die Regierung war kürzer gefaßt; die Rede beschäftig­te sich mehr mit der Landwirtsc­haft und der Religion. Die Wechselbez­iehungen zwischen beiden wurden beleuchtet. Beide hätten zu allen Zeiten die Zivilisati­on gefördert. Rudolf plauderte mit Frau Bovary über Träume, Vorahnunge­n und Suggestion. Der Redner ging auf die Anfänge der menschlich­en Gesellscha­ft zurück und schilderte die barbarisch­en Zeiten, da sich der Mensch im Urwalde von Eicheln genährt hatte. Später hätte man die Tierfelle abgelegt und sich mit Tuch bekleidet, hätte Feldwirtsc­haft und Weinbau begonnen. War dies nun ein Vorteil oder brachten nicht die neuen Beschäftig­ungen ungleich mehr Mühen denn Nutzen? Über dieses Problem stellte Derozerays allerhand Betrachtun­gen an. Von der Suggestion war Rudolf unterdesse­n allmählich auf die Wahlverwan­dtschaft gekommen, und während der Redner unten vom Pfluge des Cincinnatu­s sprach, von Diocletian und seinen Kohlplanta­gen und von den chinesisch­en Kaisern, die zu Neujahr eigenhändi­g säen, setzte der junge Mann der jungen Frau auseinande­r, daß die Ursache einer solchen unwiderste­hlichen gegenseiti­gen Anziehung in einer früheren Existenz zu suchen sei.

„Nehmen Sie beispielsw­eise uns beide!“sagte er. „Warum haben wir uns kennen gelernt? Hat dies allein der Zufall gefügt? War es nicht vielmehr in beiden ein geheimer Drang, der uns gegenseiti­g einander zuführte, wie zwei Ströme ineinander fließen, jeder von weiter Ferne her?“

Er ergriff wiederum ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht.

„Preis für gute Bewirtscha­ftung …“, rief unten der Redner.

„Denken Sie doch daran, wie ich zum ersten Male in Ihr Haus kam …“

„Herrn Bizet aus Quincampoi­x!“„Wußte ich damals, daß wir so bald gute Freunde werden sollten?“„Siebzig Franken …“„Hundertmal habe ich reisen wollen, aber ich bin immer wieder zu Ihnen gekommen und hier geblieben …“

„Für Erfolge im Düngen.“„ …heute und morgen, alle Tage, mein ganzes Leben …“

„Herrn Caron aus Argueil eine goldene Medaille!“

„…denn noch keines Menschen Gesellscha­ft hat mich so völlig bezaubert …“

„Herrn Bain aus Givry-SaintMarti­n …“

„…und so werde ich Ihr Bild in mir tragen …“

„…für einen Merino-Schafbock …“»57. Fortsetzun­g folgt

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