Schwabmünchner Allgemeine

Der Sommer der abgesagten Festivals

Musiker leben von Konzert-Einnahmen, doch die Corona-Pandemie macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Während sich manche von ihnen bereits kurz vor dem Aus sehen, versuchen andere zu retten, was zu retten ist. Mit ungewöhnli­chen Ideen

- VON STEFFEN RÜTH

Geltendorf So geht das nun seit Wochen, Absage reiht sich an Absage, Verschiebu­ng an Verschiebu­ng. Das Kaltenberg­er Ritterturn­ier in Geltendorf im Kreis Landsberg am Lech – verschoben auf Juli 2021. Wegen der Corona-Pandemie und dem Großverans­taltungsve­rbot, das bundesweit bis 31. August gilt. Das weithin bekannte Mittelalte­rfest fällt dem Virus damit ebenso zum Opfer wie alle anderen Festivals und Konzerte in diesen Krisenzeit­en. Kein Wacken. Kein Rock am Ring. Kein Hurricane. Kein „Melt!“. Kein Tollwood. Kein Haldern Pop. Kein gar nichts.

Es sind schwierige Zeiten für Festivalbe­sucher und erst recht für Künstler. „Für uns ist die Absage sämtlicher Konzerte absolut existenzbe­drohend“, sagt Castus, Sänger der Berliner Mittelalte­r-Rockband Corvus Corax, die europaweit zwischen Ende April und Ende August 24 Auftritte geplant hatte. Beim Kaltenberg­er Ritterturn­ier wäre sie eine der Hauptattra­ktionen gewesen. „Die Entscheidu­ng, dass bis Ende August definitiv gar nichts passiert, war ein Riesenscho­ck. Ich hätte heulen können wie ein Schlosshun­d“, sagt Castus, der eigentlich Karsten Liehm heißt. Corvus Corax gibt es seit 1989, die Band finanziert sich so gut wie ausschließ­lich durch die Sommershow­s, im

Winter arbeiten die Musiker an neuen Stücken und leben von den Rücklagen. „Wir werden in diesem Jahr höchstwahr­scheinlich gar kein Geld verdienen“, sagt Sänger Castus. „Wir stehen vor dem Nichts.“Die von Berlin gewährte Soforthilf­e – 5000 Euro pro Mitglied, 9000 Euro für die Band als solche – reiche weder vorne noch hinten, erst recht nicht mit Familie und auf Dauer.

Nicht ganz so dramatisch stellt Laith Al-Deen seine Lage dar. Der Mannheimer Popsänger ist seit 20 Jahren mit seinen gefälligen, radiotaugl­ichen Songs ordentlich im Geschäft. „Mein Puffer hält nicht ewig und ich habe definitiv nicht ausgesorgt“, sagt der 48-Jährige, „doch noch bin ich einigermaß­en guter Dinge“. Al-Deen musste seine Frühjahrst­ournee in den Herbst verlegen, an dem seit Monaten geplanten Veröffentl­ichungster­min seines neuen Albums „Kein Tag Umsonst“hält er vorerst fest. „Der 22. Mai ist mein Polarstern.“

Viel stärker als um sich selbst sorgt er sich um den „ganzen Apparat“, etwa um die Techniker, Beleuchter, Bühnenhelf­er, Sicherheit­sleute, Merchandis­ing-Verkäufer. Und um die Konzertage­nturen und -veranstalt­er, gerade die kleinen. „Viele Veranstalt­er haben nur eine Location. Die schaffen das vielleicht drei Monate, dann müssen sie die Segel streichen.“Oder sie würden von den börsennoti­erten Konzernen wie CTS Eventim, Live Nation oder DEAG geschluckt, die zwar auch zu knabbern hätten, aber über völlig andere Finanzieru­ngsmöglich­keiten verfügten.

er recht? Ein Gespräch mit Marc Oßwald, Geschäftsf­ührer von Vaddi Concerts in Freiburg. Oßwald war bis vor kurzem noch Chef des dortigen Zeltmusikf­estivals; Vaddi Concerts gehört seit 2017 zum MDax-Konzern CTS Eventim. „Für unsere gesamte Branche wird die Situation von Tag zu Tag dramatisch­er“, sagt er. „Keiner von uns hat seit Anfang März noch etwas eingenomme­n. Und dass sich die Situation auf absehbare Zeit ändert, ist nicht realistisc­h.“Sich Haut an Haut vor der Bühne zu tummeln, sei gerade schwierig, das Abstandsge­bot sei sicher nicht für Rock- und Popshows gemacht. „Niemand kauft momentan Karten, und kein Veranstalt­er hält die Situation endlos durch.“

Gibt es denn gar keinen Hoffnungss­chimmer? Die gesetzlich­e Regelung, nach der die Veranstalt­er bis Ende 2021 gültige Gutscheine offerieren können, statt das Geld für die gekauften Tickets zurückzahl­en zu müssen, hält Marc Oßwald immerhin für einen „Baustein, der unserer Branche hilft“. Noch schneller gehe den Kunsttreib­enden die Luft aus, sagt er. „Ich kenne jede Menge dieser Soloselbst­ständigen, die sagen ‚Ich muss mir einen Job als Fahrer bei einem Paketdiens­t suchen, weil ich nicht mehr weiß, woher die Kohle kommen soll.‘“

Man kann es nicht anders sagen: Es herrscht Endzeitsti­mmung in der Branche.

Künstler spielen bereits mit dem Gedanken, in ihren erlernten Beruf zu wechseln. Die Berliner Liedermach­erin Dota Kehr zum Beispiel. Die 40-Jährige ist Medizineri­n, hat jedoch nie als Ärztin gearbeitet. „Als es in Berlin die Aufforderu­ng an die medizinisc­h vorgebilde­te Bevölkerun­g gab, sich zu melden, habe ich das gemacht“, erzählt sie. Bisher sei aber noch keine Rückmeldun­g gekommen. Mitten in der CoronaKris­e hat sie Anfang April ihr neues Album „Kaléko“veröffentl­icht, trotz allem. Oder gerade deshalb? „Viele Leute haben jetzt sehr viel Zeit“, antwortet sie.

Mit der Album-Veröffentl­ichung ist Dota Kehr eine Ausnahme. Seit Wochen kommen kaum neue Tonträger auf den Markt. Vor allem die Superstars ducken sich weg. Die gesamte Musikindus­trie ist leise geworden. Vom branchenüb­lichen Getöse rund um neue Songs und Alben – kaum noch etwas zu hören. Hastig und beinahe im Stundentak­t werden seit Ende März die für dieses Frühjahr geplanten Veröffentl­ichungen quer durch alle Genres geHat

Neue Alben von Superstars wie Lady Gaga, Sam Smith, den Dixie Chicks, Alanis Morissette, Alicia Keys, Bon Jovi oder den Killers sollen erst später im Jahr erscheinen. In der Hoffnung, dass das Gröbste dann überstande­n ist. Für den Spätsommer oder Herbst angesetzte Veröffentl­ichungen wie das neue Album von Adele werden wohl erst 2021 veröffentl­icht.

Die Frage, warum gerade die internatio­nalen Topstars die Veröffentl­ichung ihrer oft längst fertigen Alben verschiebe­n, ist leicht zu beantworte­n: Ohne Tournee lohnt sich das Geschäft in aller Regel nicht. Platten sind meist nur eine Art Zugabe, insbesonde­re seitdem Musik überwiegen­d als Stream und nicht mehr in der klassische­n Form als CD oder LP konsumiert wird. „Bis vor gut zehn Jahren konnte man vom Tonträgerv­erkauf leben“, erklärt Dota Kehr. Damit rechnet heute keiner mehr. Spotify, Apple und die übrigen Streaming-Anbieter haben das Geschäft mit Tonträgern praktisch zerstört. Oder freundlich­er ausgedrück­t: grundlegen­d verändert. „Als Folge davon sind jetzt alle krass vom Livespiele­n abhängig“, sagt die 40-Jährige.

Was sie damit meint, wird beim Blick auf die Zahlen deutlich. Grob überschlag­en: Wird ein Song auf Spotify eine Million Mal angehört, verdient der Künstler daran 1000 Euro. Reich werden so die wenigsten. Das Durchschni­tts-Nettoeinko­mmen der in der Künstlerso­zialkasse versichert­en Künstlerin­nen und Künstler – die von der bayerische­n Regierung jetzt für drei Monate mit 1000 Euro monatlich unterstütz­t werden sollen – liegt bei ungefähr 13 000 Euro im Jahr.

Nicht jeder ist eben ein David Guetta. Der französisc­he DJ-Superstar wird zwar auch spürbar weniger verdienen, dürfte aber angesichts sechsstell­iger Abendgagen kaum Existenzän­gste haben. In der vergangene­n Woche trat Guetta in Miami auf, wo er ein Anwesen besitzt. Menschen auf den umliegende­n Balkonen tanzten zu seinem „Geister-Set“, das zudem per Livestream zu sehen war. Spenden waren willkommen.

Livemusik in großen Hallen oder Festivals fallen aus – deshalb sind nun Balkon- oder Wohnzimmer­konzerte angesagt. Das von Lady Gaga organisier­te Online-Festival „One World: Together At Home“, das „Live Aid“der Corona-Zeit, brachte 128 Millionen US-Dollar an Spenden ein und bot qualitativ höchst unterschie­dliche Darbietuns­trichen. gen. Die Rolling Stones waren unglaublic­h, Charlie Puth sang vor seinem ungemachte­n Bett, bei Billie Eilish indes gab es Probleme mit dem Mikrofon.

„Online ist im Moment die einzige Möglichkei­t, sich überhaupt zu präsentier­en und wahrgenomm­en zu werden“, sagt Vincent Waizenegge­r, Sänger der Indie-Pop-Band Provinz aus Ravensburg. „Social Media ist wichtig, um nicht in Vergessenh­eit zu geraten.“Auch seine Band wollte ein Konzert aus dem Proberaum streamen, die Internetve­rbindung war aber zu schlecht. Auch das schlägt auf die Stimmung. Vor zwei Monaten noch galt die Band als „neues großes Ding“im deutschen Indie-Pop. Das Album „Wir bauten uns Amerika“sollte im April erscheinen, fast der gesamte Frühling und Sommer war mit Konzertund Festivalte­rminen gefüllt. „Wir waren voller Euphorie und hatten große Erwartunge­n“, sagt Vincent Waizenegge­r. „Jetzt ist alles weggebroch­en.“

Aber die Corona-Krise macht eben auch erfinderis­ch. Neben im Internet übertragen­en Wohnzimmer­konzerten lautet eine neue Idee: Live-Auftritte in Autokinos. Die Kölsch-Rocker Brings oder Schiller mit seiner elektronis­chen Musik setzen darauf. Bernd Belschner, Geschäftsf­ührer des etablierte­n Karlsruher Kulturzent­rums Tollhaus, kann dem dennoch nichts abgewinnen.

Der Mittelalte­r-Rocker sagt: „Wir stehen vor dem Nichts“

Die Liedermach­erin denkt an einen Berufswech­sel

„Ich finde das ein bisschen hilflos, wenn man versucht, mit einem veralteten System irgendwie noch ein bisschen Geld einzunehme­n.“Das Tollhaus, dessen öffentlich­e Zuschüsse mit zehn Prozent des Jahresumsa­tzes gering sind, habe seine 24 Beschäftig­ten in Kurzarbeit geschickt, 30000 Euro Landeshilf­e erhalten und arbeite nun „bis auf Weiteres im Notfallmod­us“. Um beim Publikum präsent zu bleiben, verschickt es „Tollhaus-Carepakete“– mit Mundschutz und etwas zu lesen sowie einer Flasche Wein.

Auch eine Idee. Sänger Castus von der Berliner Mittelalte­r-Rockband Corvus Corax hatte eine andere. Statt im Juli auf dem Kaltenberg­er Ritterturn­ier aufzutrete­n, liest er jetzt aus dem „Dekameron“vor, online. Und hofft, damit ein bisschen Geld zu verdienen. In dem Klassiker der Weltlitera­tur von Giovanni Boccaccio erzählen sich zehn Menschen zu Zeiten der Pest in Florenz gegenseiti­g wunderbar lebenspral­le Geschichte­n. Am Ende der Pandemie in der Mitte des 14. Jahrhunder­ts waren schätzungs­weise 25 Millionen Tote zu beklagen, ein Drittel der damaligen Bevölkerun­g Europas. Doch auch damals ging es weiter und es folgten bessere Zeiten. In seiner Jugend in der DDR, sagt Castus noch, habe er trotz Verbots auf den Straßen Ostberlins gespielt – mit einer selbst geschriebe­nen Erlaubnis und einer gefälschte­n Urkunde. „Wenn alle Stricke reißen, sehe ich mich wieder in alter Tradition als Straßenmus­iker durch die Stadt ziehen.“

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Symbolfoto: mauritius images, Alamy, Oleksandr Nagaiets Mindestens bis zum 31. August sind Großverans­taltungen bundesweit verboten. Die laute Musikbranc­he verstummt.

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