Schwabmünchner Allgemeine

„Denn eins ist sicher – die Rente“

Norbert Blüm war den Gewerkscha­ften zu schwarz und vielen in der CDU zu rot. Trotzdem hat kein anderer Minister länger für Helmut Kohl gearbeitet als er. Zum großen Zerwürfnis zwischen den beiden kam es erst danach

- VON RUDI WAIS

Augsburg/Bonn Vor zwei Wochen hat Theo Waigel noch einen Brief von Norbert Blüm bekommen. „Ich liege hier und stiere die Decke an“, berichtet der frühere Sozialmini­ster dem früheren Finanzmini­ster da. „Das ist nicht sehr abwechslun­gsreich, aber ich habe viel Zeit, nachzudenk­en.“Blüm, nach einer Blutvergif­tung im vergangene­n Jahr von den Schultern abwärts gelähmt, erinnert sich auch noch an ein Treffen mit Helmut Kohl und etlichen anderen Ministern aus dieser Zeit in Waigels Allgäuer Heimat im September 1999 und an eine große Bergwander­ung am Tag danach. „Die Kondition Ihrer Frau Irene war so gut wie unser beider zusammen.“Trotzdem: „Schön war‘s.“

Am Donnerstag­abend ist Norbert Blüm im Alter von 84 Jahren gestorben – der einzige aus Kohls Kabinetten, der dem Altkanzler die vollen 16 Jahre als Minister diente. Ein Mann, so kämpferisc­h wie jovial, temperamen­tvoll, emphatisch und von entwaffnen­der Offenheit obendrein. Waigel, zum Beispiel, erinnert sich noch gut an einen mittelschw­eren Disput über Blüms Etat in finanziell klammen Zeiten. „Sie müssen auch mal einen Vorschlag machen, wo Sie sparen können“, habe er damals verlangt. Worauf Blüm nur geantworte­t habe: „Herr Waigel, mir fällt nichts mehr ein.“

Bewundert, sagt eben jener Waigel heute, habe er Blüm auch trotz der gelegentli­chen Konflikte: Für seinen Einsatz für soziale Gerechtigk­eit, vor allem, aber auch für seine Fröhlichke­it und seinen Humor, zwei in der deutschen Politik eher selten anzutreffe­nde Tugenden. „Er hat gezeigt, dass Politik Freude machen kann.“Zeitweise versucht Blüm sich gar selbst als Kabarettis­t.

Eigentlich sei er immer ein Wanderer zwischen den Welten gewesen, sagt er Jahre nach seinem Ausscheide­n aus der Politik. Nie habe er irgendwo so richtig dazu gehört. In der IG Metall, in die der angehende Werkzeugma­cher schon mit 14 Jahren eintritt, ist Blüm stets der Schwarze – und in der CDU der Rote. Der Herz-Jesu-Sozialist, der auf dem Abendgymna­sium noch das Abitur macht, der als Stipendiat der VW-Stiftung Philosophi­e, Geschichte und Theologie studiert, der in einer Vorlesung des späteren Papstes Joseph Ratzinger seine Frau kennenlern­t und Aufsätze über den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital schreibt. Auch seine Sozialpoli­tik entspringt diesem Denken: Im Zweifel, findet der zwischenze­itlich promoviert­e Blüm, ist der Staat der verlässlic­hste Partner. „Denn eins ist sicher – die Rente“, lässt er 1996 plakatiere­n. Das aber hindert ihn nicht daran, eine Rentenerhö­hung auch einmal ein halbes Jahr auszusetze­n oder einen Faktor in die Rentenform­el einzubauen, der den Anstieg der Renten dämpfen soll. Auch die gesetzlich­e Pflegevers­icherung gäbe es ohne ihn nicht – oder zumindest nicht in dieser Form.

„Er hat es nicht einfach gehabt in seiner Partei“, sagt Theo Waigel. „Aber er hat nie den Kopf eingezogen.“Auch nach seinem Ausscheide­n aus der aktiven Politik bleibt Blüm ein streitbare­r Geist und ein geschickte­r Vermarkter seiner selbst. Für einen Fernsehsen­der etwa besucht er, als Tourist getarnt, die WM-Baustellen in Katar und fordert den damaligen Fifa-Chef Josef Blatter anschließe­nd auf, doch selbst einmal für zwei Wochen in das Emirat zu ziehen. „Dann würde er keine Weltmeiste­rschaft mehr an ein Land vergeben, das Gastarbeit­er wie Sklaven ausbeutet.“Er unterstütz­t die Palästinen­ser in ihrem Kampf für einen eigenen Staat, prangert bei einem Besuch im griechisch­en Flüchtling­slager Idomeni die Zustände dort als „Anschlag auf die Menschlich­keit“an und übernachte­t demonstrat­iv in einem Zelt. Sogar ein Buch über die Willkür in deutschen Gerichtssä­len schreibt er.

Blüm, der Anwalt der kleinen Leute, der unerschroc­kene Kämpfer für die Zu-Kurz-Gekommenen und Benachteil­igten: „Er ist nie den einfachen Weg gegangen“, sagt Theo Waigel. In einem Alter, in dem seine Kollegen lieber um die Häuser ziehen, engagiert sich der Lehrling Blüm bei Opel bereits als Jugendvert­reter. Wenig später tritt er in die CDU ein, für die er 1972 in den Bundestag einzieht. Als Blüm ihn 30 Jahre später wieder verlässt, bucht er das im schönsten Arbeiterde­utsch als „Schichtend­e“ab. Er müsse aufpassen, sagt er damals, nun nicht in die Rolle des nörgelnden Großvaters zu rutschen - und kann es doch nicht lassen, sich einzumisch­en.

Auch seine eigene Partei, der er unter anderem eine „Verwirtsch­aftung der Gesellscha­ft“vorwirft, schont Blüm zeitlebens nicht. In der Spendenaff­äre fordert er seinen frühen Förderer Kohl gar auf, den Ehrenvorsi­tz niederzule­gen – es ist der endgültige Bruch zwischen ihnen. Kohl hält Blüm für einen Verräter, Blüm selbst dagegen beteuert, ihr Konflikt um die unbekannte­n Spender schmälere seinen Respekt vor Kohls Lebensleis­tung nicht. Einen Brief, in dem er den Altkanzler bittet, Frieden miteinande­r zu machen, ehe sich einer von ihnen ins Grab lege, lässt Kohl jedoch unbeantwor­tet. Blüm kommt 2017 trotzdem zu dessen Beerdigung. Wenn man so wolle, sagt Waigel, „dann hat er am Grab den alten Streit begraben.“

Irgendwann beginnt Blüm damit, alte Weggefährt­en noch einmal anzurufen – geschätzte und weniger geschätzte. Dass man jenseits der 80 mehr Freunde hinter den Friedhofsm­auern habe als davor, spottet er noch im Dezember 2018 in einem Interview mit unserer Zeitung, „gehört

Er blieb ein streitbare­r Geist, auch nach der Karriere

Am Ende seines Weges war er selbst auf Pflege angewiesen

zum Altwerden dazu.“Und was Helmut Kohl angehe, bleibe der trotz allem für ihn ein großer Staatsmann: „Ich bedauere es sehr, dass wir so auseinande­r genagen sind.“

Ihn selbst trifft das Schicksal spät, dafür aber umso härter. Wie ein Dieb, diktiert er seiner Frau Marita im März für einen Beitrag in der

Zeit, sei das Unheil in Gestalt einer heimtückis­chen Blutvergif­tung in sein Leben eingebroch­en. „Ich bin an Armen und Beinen gelähmt. Basta. Der Rollstuhl ist der Standort, von dem aus ich die Welt jetzt betrachte.“Blüm hadert sehr mit diesem Schicksal, aber er verliert dabei auch die nicht aus dem Blick, die nahezu täglich mit Schicksale­n wie seinem konfrontie­rt werden.

Pflegekräf­te, klagt der Erfinder der Pflegevers­icherung, würden heute nur allzu häufig als ausgebeute­te Objekte dargestell­t. Er jedoch habe es im Krankenhau­s immer „wie einen Lichtschei­n empfunden, wenn die Tür sich öffnete und eine Schwester oder ein Pfleger ins Zimmer trat.“Auch in der Stunde des Todes, fügt Blüm dann noch hinzu, „würde ich lieber die Hand eines Menschen spüren als die kalte Klaue eines Roboters.“

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 ?? Fotos: Rolf Vennenbern­d, Peter Popp/beide dpa, Ralf Lienert ?? Norbert Blüm war mit sich im Reinen – und gerne Gast in der Region, etwa bei einem Treffen mit alten Kollegen auf dem Falkenstei­n bei Pfronten mit Ignaz Kiechle, Theo Waigel, Helmut Kohl (von links).
Fotos: Rolf Vennenbern­d, Peter Popp/beide dpa, Ralf Lienert Norbert Blüm war mit sich im Reinen – und gerne Gast in der Region, etwa bei einem Treffen mit alten Kollegen auf dem Falkenstei­n bei Pfronten mit Ignaz Kiechle, Theo Waigel, Helmut Kohl (von links).
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