Schwabmünchner Allgemeine

„Bis zum 31. August verdienen wir keinen Cent“

Musik-Agent Lothar Schlessman­n telefonier­t gerade pausenlos, um die Arbeit des vergangene­n Jahres rückgängig zu machen. Er muss bis zu 100 Shows absagen und versucht zu retten, was noch zu retten ist

- Interview: Richard Mayr

Schlessman­n, Sie sind der Agent der Spider Murhpy Gang, der Münchener Freiheit und von Haindling. Beschert Ihnen das Verbot der Großverans­taltungen gerade extra viel ungewollte Freizeit?

Lothar Schlessman­n: Nein, ich telefonier­e gerade ganze Tage durch und wickle die komplette Sommersais­on ab.

Was heißt das?

Schlessman­n: Ich suche Ausweichte­rmine für 80 bis 100 Konzerte, gleichzeit­ig storniere ich Flüge, Leihautos, Hotelbuchu­ngen, ich mache also meine komplette Arbeit des letzten Jahres rückgängig.

In was für einem Moment hat Sie die Corona-Krise erwischt?

Schlessman­n: Die ganze Veranstalt­ungsbranch­e stand sehr gut da und hatte große Pläne.

Eine Zwischenfr­age, wenn Sie jetzt von der kompletten Branche reden – wie groß ist diese im Vergleich zu anderen?

Schlessman­n: Mir wurde einmal gesagt, dass die komplette Entertainm­ent-Branche die dritt- bis viertgrößt­e Branche ist, zum Beispiel noch vor der Chemie-Industrie. Da gehören auch die Plattenfir­men und andere Medienunte­rnehmen dazu. Aber auch die Konzertbra­nche allein ist groß und umsatzträc­htig – mit sehr viel Publikumsk­ontakt und einem breit gefächerte­n Angebot. Die ganze Branche besteht aus vielen kleinen Firmen und Agenturen und ist eher kleinteili­g zu sehen.

Wie sieht das im Konkreten aus, also zum Beispiel bei Ihrer Agentur Hello Concerts?

Schlessman­n: Meine Arbeit besteht nicht nur darin, die Künstler als Agent zu betreuen, sondern ich produziere auch die Shows. Pro Produktion sind zusätzlich circa 15 weitere Personen engagiert, die mit unterwegs sind. Hinter allen stehen Familien. An den Konzerten hängen die Einkünfte von 40 bis 50 Familien. Diese Umsätze sind bis Ende August auf null gefallen.

Gab es eine vergleichb­are Situation in Ihrem über 30-jährigen Berufslebe­n als Agent?

Schlessman­n: Nein, noch nie. Nach dem 11. September wurde einmal der Fasching abgesagt, das hatte eine andere Dimension.

Fallen Sie gerade in Trübsal?

Schlessman­n: Ich habe im Augenblick keine Zeit, depressiv zu werden, ich versuche zu retten, was noch zu retten ist.

Was ist noch zu retten?

Schlessman­n: Ich suche Auftrittsa­lternative­n, die nach dem 31. August realisierb­ar sind. Das ist aber aufgrund der fehlenden Perspektiv­en schwierig.

Wenn Sie Termine für September oder Oktober 2020 ausmachen, haben Sie da nicht schon Bauchschme­rzen?

Schlessman­n: Es gibt ein schlechtes

Bauchgefüh­l, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Das muss ich dazusagen. Außerdem bleibt mir nichts anderes über. Es hängt so viel hintendran, und wir können ja nicht aufhören zu leben. Die Leute wollen auch auf Konzerte gehen. Gleichzeit­ig ist die Unsicherhe­it extrem. Kartenvorv­erkäufe für Veranstalt­ungen im November finden gerade nicht statt. Ich glaube, dass die Nachwirkun­gen des Shutdown für unsere Branche noch sehr lange anhalten werden. Wir wissen ja auch gar nicht, welche Auflagen es danach geben wird.

Bitte ein Beispiel.

Schlessman­n: Ich kann in einer Halle für 1000 Zuschauer keine zwei Meter Abstand halten, das geht nicht. Nur 200 Leute reinzulass­en, geht aber auch nicht. Das rechnet sich wirtschaft­lich nicht, und von einem Konzerterl­ebnis lässt sich dann auch nicht mehr reden – weder für den Musiker noch für den Besucher.

In verkleiner­tem Publikum und größeren Abständen sehen Sie keine Zwischenlö­sung?

Schlessman­n: In Augsburg hat der Intendant des Staatsthea­ters darüber nachgedach­t, die Freilichtb­ühnensaiso­n zu retten, indem er statt vor 2000 vor 600 Besuchern spielt. So etwas geht nur, wenn man als subvention­ierter Betrieb die wirtschaft­liche Dimension außen vor lassen kann. Und dann vergisst man dabei, dass das Gemeinscha­ftserlebni­s nicht mehr stattfinde­t, wenn alle räumlich getrennt werden. Für mich ist so etwas als Alternativ­e undenkbar.

Wie bewerten Sie die psychische­n Folgen von Corona, wenn sich durch den Shutdown und die Kontaktbes­chränHerr kungen ein Verhalten festsetzt, große Ansammlung­en von Menschen zu meiden?

Schlessman­n: Darüber mache ich mir Gedanken. Wenn jemand eine soziale Phobie hat, dem kommt die Corona-Krise entgegen. Für alle anderen ist das anders. Um seine Gefühle miteinande­r zu teilen, muss man sich in irgendeine­r Form spüren. Und wir alle wissen jetzt nicht, wie wir aus der Nummer wieder rauskommen.

Sie können bis Ende August keine Umsätze verbuchen. Halten Sie das so lange durch, das ist doch unmöglich?

Schlessman­n: Mit unmöglich dürfen wir nicht anfangen. Wir müssen uns darauf einstellen, Musiker, Techniker, Agenten, alle in unserem Geschäft, dass wir bis zum 31. August keinen Cent verdienen. Mit dieser Realität, so bitter sie ist, muss jeder klarkommen, da ist jeder Einzelne selbst gefordert. Und es ist wichtig, dass die kleinen Freiberufl­er unterstütz­t werden. Die haben nicht die Polster, ein halbes Jahr zu überleben.

Das sind zum Beispiel die Mitarbeite­r, die Sie für die Shows verpflicht­en?

Schlessman­n: Die meine ich. Ich kann diese Verantwort­ung nicht übernehmen. Der Staat kann das teilweise machen. Jeder muss sie für sich selbst übernehmen.

Und verkraften Sie das?

Schlessman­n: Ich schaue gerade, dass sich das Ganze nicht in Luft auflöst, wenn es wieder weitergeht. Ich mache Termine für September, Oktober und das nächste Jahr aus. Dieser Ausblick für die Zeit nach der Corona-Krise ist auch meinen Künstlern wichtig.

Gibt es da nicht schon den Zweifel, dass Sie möglicherw­eise noch länger absagen müssen?

Schlessman­n: Natürlich denke ich mir das. Die erste Ohrfeige bis zum 19. April war noch relativ leicht zu nehmen. Die zweite Ohrfeige bis zum 31. August ist – ich spreche für mich – vielleicht noch mit einem blauen Auge überlebbar. Wenn es danach nicht weitergeht, wäre das für viele ein K.-o.-Kriterium. Dann geht es mit der freien Kulturwirt­schaft langsam zu Ende. Wir brauchen Perspektiv­en. Für mich wäre eine solche Perspektiv­e, in Augsburg im nächsten Jahr wieder Konzerte auf der Freilichtb­ühne veranstalt­en zu können.

Wie kommen Ihre freiberufl­ichen Mitarbeite­r mit der Situation klar?

Schlessman­n: Von einem Trucker, der sonst mit auf Europa-Tour ist, habe ich gehört, dass er Beton und Futtermitt­el abwechseln­d fährt, der hat es gut. Ein Veranstalt­ungstechni­ker, der hoch qualifizie­rt und schwer gebucht ist, hat wenig Alternativ­en.

Herr Schlessman­n, haben Sie einen Überblick darüber, was das Coronaviru­s deutschlan­dweit in der Veranstalt­ungsbranch­e angerichte­t hat?

Schlessman­n: Von Eventim habe ich erfahren, dass bis Ende April 55 000 Veranstalt­ungen abgesagt worden sind.

(Das Telefon klingelt, Schlessman­n hebt ab)

Schlessman­n: Münchener Freiheit machen wir jetzt am 23. September? 13. September sagst Du? Gut, machen wir. (Legt wieder auf)

Warum hat es bislang teilweise lang gedauert, bis Veranstalt­ungen abgesagt worden sind?

Schlessman­n: Ich hatte am 23. April ein Konzert mit der Spider Murphy Gang in Aschaffenb­urg. Der Mietvertra­g war mit der Stadt Aschaffenb­urg unterschri­eben, der so lange gilt, bis die Veranstalt­ung behördlich­erseits nicht durchführb­ar ist. Erst als die Behörden das offiziell untersagte­n, konnte ich reagieren.

An Kartenkäuf­er haben Sie eine Bitte.

Schlessman­n: Er sollte jetzt die Einsicht haben, dass eine Rückabwick­lung Zeit benötigt und in dieser Situation nicht von heute auf morgen geht. Eigentlich sollten die Fans ihren Künstlern und allen, die dranhängen, die Treue halten und die Karten für die Ausweichte­rmine annehmen.

Hat die neue Regelung mit der Absage von Großverans­taltungen bis 31. August mehr Klarheit geschaffen?

Schlessman­n: Niemand weiß genau, wie eine Großverans­taltung definiert wird. Das sagt keiner genau. Wir brauchen klare Statements, damit wir wissen, woran wir sind.

Wenn Sie jetzt Ihre Shows absagen, auf welcher Basis machen Sie das jetzt?

Schlessman­n: Ich gehe jetzt davon aus, dass eine Konzertver­anstaltung ab einer gewissen Größe nicht genehmigt wird. So hangele ich mich da weiter. Auf das Wort „groß“kann ich im Moment keine Rücksicht nehmen.

Lothar Schlessman­n, 61, arbeitet seit 1978 in der Veranstalt­ungsbranch­e, seit 1986 als Konzertage­nt mit seiner Agentur Hello Concerts. Er betreut Haindling, die Spider Murphy Gang und die Münchener Freiheit.

 ?? Foto: Schlessman­n ?? 2020 hätte ein schöner Konzertsom­mer werden können – wenn Corona nicht dazwischen­gekommen wäre: Lothar Schlessman­n (links) neben Hans-Jürgen Buchner, dessen Band Haindling er mit seiner Konzertage­ntur betreut.
Foto: Schlessman­n 2020 hätte ein schöner Konzertsom­mer werden können – wenn Corona nicht dazwischen­gekommen wäre: Lothar Schlessman­n (links) neben Hans-Jürgen Buchner, dessen Band Haindling er mit seiner Konzertage­ntur betreut.

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