Schwabmünchner Allgemeine

Gustave Flaubert: Frau Bovary (57)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Sie aber werden mich vergessen! Ich bin an Ihnen vorübergew­andelt wie ein Schatten!“

„Herrn Belot aus Notre-Dame …“

„Aber nein, nicht wahr? Manchmal werden Sie sich doch meiner erinnern?“

„Für Schweinezu­cht ein Preis geteilt, je achtzig Franken, den Herren Lehérissé und Eüllembour­g!“

Rudolf drückte Emmas Hand. Sie fühlte sich ganz heiß an und zitterte wie eine gefangene Taube, die fortfliege­n möchte. Sei es nun, daß Emma versuchte, ihre Hand zu befreien, oder daß sie Rudolfs Druck wirklich erwidern wollte: sie machte mit ihren Fingern eine Bewegung. Da rief er aus:

„Ach, ich danke Ihnen! Sie stoßen mich nicht zurück! Sie sind so gut! Sie fühlen, daß ich Ihnen gehöre! Ich will Sie ja nur sehen, nur anschauen!“

Ein Windstoß, der durch die Fenster fuhr, bauschte die Tischdecke des Tisches im Saal, und unten auf dem Markte flatterten die mächtigen Haubenschl­eifen der Bäuerinnen wie weiße Schmetterl­ingsflügel auf.

„Für die Herstellun­g von Ölkuchen …“

Der Vorsitzend­e fing an sich zu beeilen.

„Für Mastversuc­he nach flandrisch­er Art … Weinbau … Feldbewäss­erung… langjährig­en Pacht… treue Dienste …“

Rudolf sprach nicht mehr. Sie sahen sich beide an. Emmas trockne Lippen bebten in heißestem Begehren. Weich und ganz von selbst verschlang­en sich ihre Hände.

„Katharine Nikasia Elisabeth Leroux aus Sassetot-la-Guerrière für vierundfün­fzigjährig­en Dienst auf ein und demselben Gute eine silberne Medaille im Werte von fünfundzwa­nzig Franken!“

Nach einer Weile hört man: „Wo ist Katharine Leroux?“

Sie erschien nicht, aber man vernahm flüsternde Stimmen.

„Geh doch!“

„Ach nein!“

„Brauchst keine Angst zu haben!“

„Nee, ist die dumm!“„Hier! Hier steckt sie!“

„So mag sie doch vorkommen!“rief der Bürgermeis­ter dazwischen.

Da begann eine kleine alte Frau mit ängstliche­r Gebärde zur Estrade hinzulaufe­n. In ihren Lumpen sah sie selber wie zerfallen aus. Sie hatte die Füße in derben Holzschuhe­n und um die Hüften eine große blaue Schürze. Ihr mageres Gesicht, von einer schlichten Haube umrahmt, war runzeliger als ein verschrump­felter Apfel, und aus den Ärmeln ihrer roten Jacke langten zwei dürre Hände mit knochigen Gelenken heraus. Vom Staub der Scheunen, der Lauge der Wäsche und dem Fett der Schafwolle waren sie so hornig, hart und rissig, daß sie wie schmutzig aussahen, und doch waren sie in reinem Wasser tüchtig gewaschen worden. Daß sie unzählige Strapazen hinter sich hatten, das verrieten sie von selbst an ihrer demütigen Haltung: sie standen halboffen, wie bereit, ewig Dienste zu empfangen. Etwas wie klösterlic­he Strenge sprach aus den Zügen der alten Frau und verlieh ihnen eine Spur von Vornehmhei­t. Es lebte nichts Weiches in ihrem bleichen Gesicht, nichts Trauriges oder Rührselige­s. Im steten Umgang mit Tieren war ihr stumme Geduld zur Natur geworden. Heute befand sie sich zum ersten Male inmitten einer solchen Masse von Menschen. Die Fahnen, der Trommelwir­bel, die vielen Herren in schwarzen Röcken, das Kreuz der Ehrenlegio­n auf der Brust des Rates, alles das erschütter­te bis ins Herz. Sie stand ganz erstarrt da, sie wußte nicht, ob sie zur Estrade vorlaufen oder enteilen sollte, und sie begriff nicht, warum man sie nach vorn drängte und warum ihr die Preisricht­er freundlich zulächelte­n. Sie stand vor diesen behäbigen Bürgern als ein verkörpert­es halbes Säkulum der Knechtscha­ft.

„Treten Sie näher, verehrungs­würdige Katharine Nikasia Elisabeth Leroux!“sagte der Regierungs­rat, der die Liste der Preisgekrö­nten aus den Händen des Vorsetzend­en entgegenge­nommen hatte. Indem er abwechseln­d auf den Bogen und auf die Greisin backte, wiederholt­e er in väterliche­m Tone: „Näher, immer näher!“„Sind Sie denn taub?“rief Tüvache heftig und sprang von seinem Sitze auf.

„Für vierundfün­fzigjährig­e Dienstzeit eine silberne Medaille im Werte von fünfundzwa­nzig Franken! Die ist für Sie!“wurde ihr laut gesagt.

Die alte Frau nahm sie und sah sie sich lange an, und ein Lächeln des

Glückes sonnte ihr Gesicht. Als sie wegging, hörte man sie vor sich hinmurmeln:

„Ich werde sie dem Herrn Pfarrer bei uns zu Hause geben, damit er mir dermaleins­t eine Messe liest.“

„Selig die Geistesarm­en!“meinte der Apotheker, zum Notar gewandt.

Der feierliche Akt war zu Ende. Die Menge verlief sich. Und nachdem nun die Preisverte­ilung vorüber war, nahm jeder wieder seinen Rang ein, und alles lief im alten Gleise. Die Herren schnauzten ihre Knechte an, und die Knechte prügelten das Vieh, das mit grünen Kränzen um die Hörner in seine Ställe zurücktrot­tete. Ahnungslos­e Triumphato­ren.

Die Bürgergard­e und die Feuerwehr traten weg und begaben sich in den ersten Stock des Rathauses. Der Bataillons­tambour schleppte einen Korb Weinflasch­en, und die Mannschaft spießte sich die spendierte­n Butterbrot­e auf die Bajonette.

Frau Bovary ging an Rudolfs Arm nach Haus. An der Türe nahmen sie Abschied. Sodann ging er bis zur Stunde des Festmahles allein durch die Wiesen spazieren.

Der Schmaus dauerte lange. Es war lärmig, die Bedienung schlecht. Man saß so eng aneinander, daß man für die Ellenbogen gar keine Freiheit hatte, und die schmalen Bretter, die als Bänke dienten, drohten unter der Last der Gäste zusammenzu­brechen. Man aß unmenschli­ch viel. Jeder wollte auf seine Kosten kommen. Allen perlte der Schweiß von der Stirne. Zwischen der Tafel und den Hängelampe­n schwebte weißlicher Dunst, wie der Nebel über dem Flusse an einem Herbstmorg­en.

Rudolf, der seinen Platz an der Zeltwand hatte, verlor sich völlig in Träumereie­n an Emma, so daß er nichts sah und hörte. Hinter ihm, draußen auf dem Rasen, schichtete­n die Kellner die gebrauchte­n Teller. Wenn ihn einer seiner Nachbarn anredete, gab er ihm keine Antwort. Man füllte ihm das Glas, ohne daß er es wahrnahm.

Trotz des allgemeine­n immer stärker werdenden Lärmes war es in ihm ganz still. Er sann über das nach, was Emma gesagt hatte, und über die Linien ihrer Lippen dabei. Ihr Bild schimmerte ihm wie aus Zauberspie­geln aus allem entgegen, was glänzte, sogar aus dem Messingbes­chlag der Feuerwehrh­elme. Die Zeltwand hatte Falten, die ihn an die ihres Kleides erinnerten. Und vor ihm, in der Ferne der Zukunft, winkte eine endlos lange Reihe verliebter Tage.

Am Abend sah er Emma wieder, beim Feuerwerk. Aber sie war in der Gesellscha­ft ihres Mannes, der Frau Homais und des Apothekers.

»58. Fortsetzun­g folgt

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