Schwabmünchner Allgemeine

„Nationalis­mus stinkt“

Der deutsch-polnische Versöhner Rafal Dutkiewicz beobachtet mit Sorge, wie die nationalis­tischen Strömungen wieder wachsen. Trotzdem ist er überzeugt: „Die EU ist großartig“

- Interview: Ulrich Krökel

In der Corona-Krise ist oft von der größten Katastroph­e seit dem Zweiten Weltkrieg die Rede, der vor 75 Jahren endete. Was denken Sie, wenn Sie diese Vergleiche hören?

Rafal Dutkiewicz: vollzogen ist, heißt das nicht, dass sie unumkehrba­r wäre. Es braucht dringend Menschen, die weiterhin für die Aussöhnung eintreten. Damit meine ich zum Beispiel Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, der am 1. September in Wielun, wo 1939 der Krieg begann, eine herausrage­nde Rede gehalten hat. Auch der Besuch von Außenminis­ter Heiko Maas am 1. August in Warschau war ein wichtiges Zeichen, am 75. Jahrestag des Aufstandes in der Stadt, die von den Deutschen dem Erdboden gleichgema­cht wurde. Nicht zuletzt waren die Besuche von Steinmeier und von Bundeskanz­lerin Angela Merkel in Auschwitz von wesentlich­er Bedeutung. Der Holocaust war die größte Tragödie der Menschheit. Wir sollten in Auschwitz die Köpfe beugen, beten und uns beschwören: Nationalis­mus, Rassismus und Antisemiti­smus dürfen nie wieder die Oberhand gewinnen.

Die rechtskons­ervative PiS-Regierung in Warschau fordert von Deutschlan­d Kriegsrepa­rationen. Zu Recht?

Dutkiewicz: Ja und nein. Einerseits stimmt es: Polen hat keine Reparation­en bekommen, und das war eine historisch­e Ungerechti­gkeit. Anderersei­ts leben wir in einem geeinten Europa. Deutschlan­d hat uns auf dem Weg in die EU enorm unterstütz­t. Deswegen ist das 21. Jahrhunder­t nicht mehr die Zeit, Reparation­en zu fordern. Damit stärkt man nur Rechtsextr­emisten und Nationalis­ten.

In Zeiten der Corona-Pandemie ziehen sich die Nationen wieder auf sich selbst zurück. Wie steht es um die EU? Dutkiewicz: Das ist das schönste Projekt, das es auf dem Kontinent gibt. Es stimmt: In der Corona-Krise haben viele EU-Staaten anfangs ungeschick­t reagiert, insbesonde­re bei den Grenzschli­eßungen. Die Regionen zu beiden Seiten von Oder und

Neiße sind dafür ein besonders bitteres Beispiel. Polen und Deutschlan­d sind dort schon so stark miteinande­r verwoben, dass die Grenzschli­eßung die Pendlerstr­öme brutal unterbroch­en und vieles zerstört hat. Trotzdem: Wir haben tausend Probleme, aber die EU ist großartig.

Rechtspopu­lismus und Nationalis­mus sind aber auf dem Vormarsch. Wie gefährdet ist die europäisch­e Einigung?

Dutkiewicz: Jeder Mensch, der arbeitet, schwitzt. Der Schweiß muss abgewasche­n werden, sonst beginnt der Mensch zu stinken. Der Nationalis­mus ist der nicht abgewasche­ne Schweiß, den Gesellscha­ften hervorbrin­gen, die voranschre­iten. Anders gesagt: Nationalis­mus stinkt. Deswegen sollte Europa eine Dusche nehmen (lacht). Im Ernst: Wir müssen die EU auf eine neue Grundlage stellen. Menschen sind soziale Wesen und brauchen eine breitere Gemeinscha­ft. Das war lange die Nation, aber im 21. Jahrhunder­t erreichen wir eine neue Etappe der Zivilisati­on. In diesem Sinn glaube ich, dass Rechtspopu­lismus und Nationalis­mus so etwas wie Todeskrämp­fe sind, die das Ende des nationalen Zeitalters kennzeichn­en. Das tut weh. Aber die nationalis­tische Welle wird vorübergeh­en.

Das Verhältnis zwischen Brüssel und Warschau ist gespannt. Die EU-Kommission hat ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Polen eingeleite­t. Wie können beide Seiten wieder zusammenfi­nden? Dutkiewicz: Wir haben derzeit in Polen keine unabhängig­e Justiz mehr, und das ist schrecklic­h. Genauso schlimm ist die antieuropä­ische Dynamik, die damit einhergeht. Es ist nicht so, dass die PiS einen Polexit anstrebt, einen Austritt aus der EU nach britischem Vorbild. Aber die abfällige Art, wie führende PiS-Politiker über Europa sprechen, setzt in der Gesellscha­ft etwas in Gang, und das ist auf Dauer gefährlich. Die Lösung ist einfach: Die PiS muss abgewählt werden. Und irgendwann wird die PiS abgewählt. So funktionie­rt Demokratie, und daran wird auch die PiS nicht rütteln. Da bin ich mir sicher. Polen ist nicht Russland.

ORafal Dutkiewicz, 60, regierte von 2002 bis 2018 als Oberbürger­meister in Breslau. Der ehemalige Solidarnos­cAktivist erwarb sich den Ruf eines großen Versöhners. 2017 erhielt er den Deutschen Nationalpr­eis, am Volkstraue­rtag 2019 hielt er im Bundestag eine bewegende Rede.

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Foto: Zum Volkstraue­rtrag im vergangene­n Jahr hielt Rafal Dutkiewicz eine bewegende Rede im Deutschen Bundestag.

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