Schwabmünchner Allgemeine

Das Virus lehrt uns, Zahlen zu lesen Corona und wir

Infizierte, Erkrankte, Genesene, Tote: Wie uns die Statistike­n in der Pandemie herausford­ern und doch nicht alles erfassen können

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Wir sehen es nicht. Aber Virus ist da – und nicht zu fassen. Es hat unseren Alltag derart umgekrempe­lt, wie wir uns das nie hätten vorstellen können. Schon immer habe ich mich für Zahlen, Statistike­n, Grafiken interessie­rt. So beschäftig­t mich die Frage: Ist Corona wenigstens in Zahlen zu fassen? Allein die Größe fordert die Vorstellun­gskraft. Das Virus ist winzig: 100 Nanometer, also hundertmil­lionstel Millimeter! Aber seine zerstöreri­sche Kraft ist riesig: Milliarden, Billionen Euro – die Zahlen von Krediten, Soforthilf­en und (bald) Schulden sind kaum zu (er)fassen.

Infizierte, Erkrankte, Genesene, Tote, Verdoppelu­ngszeit, Reprodukti­onszahl, Letalitäts­rate – mit all diesen Parametern werden wir täglich konfrontie­rt, von Zahlen überschwem­mt. Das ist erst mal gut so: Zahlen sind Fakten – die brauchen

das

wir in Zeiten von Fake News und Verschwöru­ngstheorie­n. Aber: Wir müssen Zahlen auch lesen (lernen).

Wie viele Menschen sind infiziert? Eine einfache Frage, von wegen! Welche Quelle ist seriös? Wer ist erfasst? Was ist mit der Dunkelziff­er? Und dann: Sind es nun viele oder wenige, wenn in Deutschlan­d 167000 Menschen infiziert sind? Mathematis­ch sind es 0,2 Prozent der Bevölkerun­g. Da lässt sich die

Frage kaum unterdrück­en: Deswegen muss alles stillstehe­n?

Es sind also andere Zahlen, die wichtig sind: Geht es nach

Neuinfizie­rten pro Tag? Müssten die Kranken in Kliniken der Maßstab sein? Im Fokus steht die Kurve der Infizierte­n. Steigt sie halbwegs stetig (also linear) oder immer steiler (also exponentie­ll)? Moment, wie war das in der Legende vom indischen Herrscher, der den Erfinder des Schachspie­ls belohnen wollte? Der erbat sich ein Reiskorn aufs erste Feld, zwei Körner aufs zweite, das Doppelte, also vier, auf das dritte Feld usw. Das Ende ist bekannt: Der König vermochte die Körner für 64 Felder nicht aufzubring­en: 18,45 Trilliarde­n Körner hätte er benötigt. Für Corona haben wir damit verstanden, warum „Flatten the Curve“, also das „Abflachen der Kurve“, so wichtig war.

Je mehr Zahlen da sind, desto aussagekrä­ftiger werden sie, heißt es. Und doch ist die Frage „Wie liegt Deutschlan­d im Vergleich?“alles andere als einfach zu klären. Wer die Infizierte­n zum Tag X listen will, muss sich fragen: Stehen die Fallzahlen im Kontext zur Einwohnerz­ahl? Ist eingerechn­et, dass die Pandemie in Italien früher und in Amerika später begonnen hat? Fragen über Fragen. Das Telefon klingelt, Anruf vom Sohn: „Du Papi, was kostet eigentlich eine Todesanzei­ge?“Der Vater eines Freundes ist an Corona gestorben. Vor ein paar Wochen hatte er 60. Geburtstag gefeiert. Corona und die Zahl 1: der erste Tote, der für mich ein Gesicht hat. Zahlen – sie sind wichtig, aber nicht zu fassen.

produziert am Newsdesk in Augsburg die Seiten für die Ressorts Politik und Wirtschaft.

An dieser Stelle berichten Kolleginne­n und Kollegen aus der Redaktion von ihrem Alltag in Zeiten von Corona.

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Markus Schwer

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