Schwabmünchner Allgemeine

„Wir haben gelernt, mit dem Virus umzugehen“

FDP-Chef Christian Lindner nennt die von Bund und Ländern beschlosse­nen Lockerunge­n der Maßnahmen in der Corona-Krise überfällig. Deutschlan­d sei inzwischen auch für eine zweite und dritte Pandemie-Welle gut vorbereite­t

- Interview: Gregor Peter Schmitz

Herr Lindner, sind Sie zufrieden, dass es in der Corona-Krise nun immer mehr Lockerunge­n gibt?

Christian Lindner: Es geht um unser Land. Und um die Menschen, die tief greifende Freiheitse­inschränku­ngen in den letzten Wochen hinnehmen mussten. Solche Eingriffe in Grundrecht­e sind immer nur dann gerechtfer­tigt, wenn sie verhältnis­mäßig sind. Daran haben wir schon länger Zweifel gehabt. Es ist gut, wenn es eine Perspektiv­e gibt hin zu einer anderen Krisenstra­tegie. Wir werden noch länger mit Corona umzugehen haben. Aber inzwischen bin ich davon überzeugt, dass all das, was erarbeitet worden ist, einen anderen Umgang mit dieser Bedrohung zulässt: der Vorbereitu­ngsstand des Gesundheit­swesens, dass wir alle viel über Hygiene gelernt haben, die Versorgung mit Schutzmate­rialien, ebenso wie hoffentlic­h bald auch eine App zur Nachverfol­gung der Infektions­ketten.

Haben wir bereits einen Status der Beherrschb­arkeit des Virus erreicht?

Lindner: Ich glaube, dass schon vor einer Woche oder 14 Tagen die tief greifenden Einschnitt­e in unsere Grundrecht­e nicht mehr verhältnis­mäßig waren. Die Entscheidu­ng für Lockerunge­n – selbst in Bayern – ist gut und richtig. Wir sind inzwischen in eine Situation geraten, wo die Folgen der Pandemiebe­kämpfung inzwischen größere Risiken bergen als das Coronaviru­s. Ich mache das fest im gesundheit­lichen Bereich an verschoben­en und unterlasse­nen Operatione­n und geschlosse­nen RehaEinric­htungen. Auch wenn Menschen dauerhaft Angst um ihren Arbeitspla­tz oder ihre wirtschaft­liche Existenz haben, nehmen sie Schaden an der Seele. Wir sind jetzt vorbereite­t und haben gelernt, mit dem Virus umzugehen. Da ist eine restriktiv­e und repressive Politik nicht mehr angemessen.

Laut Robert-Koch-Institut droht eine zweite, eventuell sogar auch eine dritte Welle mit möglicherw­eise schlimmere­n Folgen, als wir sie bislang erlebt haben. Ist das keine Sorge, die Sie umtreibt? Lindner: Doch. Aber mit Risiken muss man umgehen. Man muss sie abschätzen und dann politisch auch Vorbereitu­ngen treffen. Ich möchte mir da keine Angst mehr machen lassen. Wir haben alle an Sensibilit­ät gewonnen und werden in einer zweiten Welle nicht nur im Gesundheit­swesen, sondern auch im Alltag mit Hygiene und Abständen damit umgehen können. Wir können zudem regional reagieren in den Gegenden, wo es einen neuen Infektions­herd gibt, mit einem lokalen Shutdown. Aber wir müssen nicht mehr das ganze Land in einem Zustand des Stillstand­s halten. Wenn es in Passau ein starkes Infektions­geschehen gibt, muss man nicht auf einer Nordseeins­el die Hotels schließen. Man muss da eingreifen, wo es Infektione­n gibt. Wenn wir zurück zum gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen Leben wollen, müssen wir neue, intelligen­tere Wege finden, mit so einer Bedrohung umzugehen als alles stillzuleg­en.

Wenn Sie sagen, Sie wollen sich keine Angst mehr machen lassen: Ist das ein Vorwurf an die Krisenpoli­tik von Kanzlerin Angela Merkel?

Lindner: Nein, das ist gar kein Vorwurf. Die Fraktion der FDP und auch ich waren ja die Ersten, die das kontrollie­rte Herunterfa­hren des Landes gefordert haben. Da waren die Schulen in Bayern noch geöffnet. Damals wurde noch über Alternativ­en debattiert, über die sogenannte Herdenimmu­nität. Das Land kontrollie­rt runterzufa­hren, war zum damaligen Zeitpunkt von den Alternativ­en die beste Strategie. Nur hat sich inzwischen die Zeit verändert. Je mehr wir erfahren, desto besser sind wir vorbereite­t. Deshalb ist jetzt jeder Tag, den dieser Zustand noch andauert, ein Tag zu viel.

Haben die Ministerpr­äsidenten die Kanzlerin demontiert, als sie Tage vor dem Gipfel vorgepresc­ht sind und keine gemeinsame Lösung abgewartet haben? Lindner: Es ist mindestens eine Woche zu lange ins Land gegangen. Beispielsw­eise haben die 16 Familienmi­nister der Länder längst ein gemeinsame­s Konzept der Öffnung der Kitas erstellt und die Kultusmini­ster eines zur Öffnung der Schulen. Das hat Frau Merkel dem Vernehmen nach vor einer Woche noch abgelehnt. Aber bei der Entwicklun­g der Infektions­zahlen war es schlechter­dings nicht mehr aufrechtzu­erhalten, das Land in einem Lockdown zu lassen. Auch Gerichte haben vielfach in Einzelfäll­en so entschiede­n, auch das Bundesverf­assungsger­icht hat sich entspreche­nd geäußert.

Jetzt kommt der Vorschlag, eine Art Obergrenze für Infektions­zahlen einzuführe­n. Ist das praktikabe­l?

Lindner: Ja, dafür machen wir uns schon seit Wochen stark. Wenn es in einer Region wieder ein starkes Infektions­geschehen gibt, dann muss dort angegriffe­n werden und regional auch die Kapazitäte­n in den Krankenhäu­sern dafür reserviert werden. Aber wir müssen nicht am anderen Ende der Republik Kinder von ihren gleichaltr­igen Freunden fernhalten und eigentlich notwendige Operatione­n in Krankenhäu­sern verschiebe­n. Ich bin froh, wenn die Bundesregi­erung und die Landesregi­erungen diesen Weg jetzt gehen.

Es gab viel Kritik an NordrheinW­estfalens CDU-Ministerpr­äsident Armin Laschet, der seit Wochen für die Lockerunge­n gekämpft hat. Im Raum stand dabei immer auch die Machtfrage und das Schaulaufe­n zwischen Laschet und Markus Söder um eine mögliche Unions-Kanzlerkan­didatur. Sehen Sie Herrn Laschet durch die jetzige Entwicklun­g bestätigt? Lindner: Ja, ich sehe ihn bestätigt. „Der Kurs, den die nordrhein-westfälisc­he Regierung eingeschla­gen hat, wird von vielen übernommen, teilweise überholen die Kritiker die nordrheinw­estfälisch­e Regierung plötzlich, obwohl ihre Zahlen regional nicht viel besser sind. Das gehört zum politische­n Geschäft. Ich hatte schon den Eindruck, dass es bisweilen eine regelrecht­e Kampagne gegen den nordrhein-westfälisc­hen Ministerpr­äsidenten gab. Aber so ist nun mal Politik. Es geht um ein Land von über 80 Millionen Menschen mit einer Billion Euro Wirtschaft­sleistung im Jahr. Wer da einen Führungsan­spruch für ein solches Land erhebt, muss damit umgehen können, dass es dann auch rabiat zugeht.

Wer steckt denn hinter dieser Kampagne gegen Herrn Laschet?

Lindner: Sie kennen die Berliner Bühne ja wie kein Zweiter, und deshalb wissen Sie, dass man das gar nicht eindeutig zuordnen kann. Da entsteht irgendwann eine Dynamik, doch da führt niemand Regie.

Es gibt Forderunge­n nach einem weiteren Konjunktur­paket ab dem Sommer. Unterstütz­en Sie da die Regierung oder fürchten Sie, dass da nur noch

weiter die Milliarden­schleusen aufgemacht werden?

Lindner: Pauschal kann man das nicht sagen. Wir haben eigene Vorschläge, was wir für notwendig halten. Aber wir müssen die Wirtschaft wieder zum Leben erwecken, es geht um Arbeitsplä­tze und viele Millionen Existenzen im Land. Wir haben die größte und tiefste schwerwieg­ende Wirtschaft­skrise in der Geschichte der Republik. Da braucht es Maßnahmen, rauszukomm­en. Wir sind für öffentlich­e Investitio­nen vor allem in den Bereich der Digitalisi­erung. Da sind die Defizite in der Krise eklatant offensicht­lich geworden, nicht nur bei den Schulen. Wir brauchen aber auch private Investitio­nen, privaten Konsum, und die Menschen müssen auch wieder private Vorsorge betreiben können. Dieser Teil sollte im Zentrum einer Beschleuni­gung der wirtschaft­lichen Dynamik stehen, sodass wir zu einer wachstumsf­reundliche­n Steuerrefo­rm kommen müssen, die speziell die arbeitende Mitte im Land in den Blick nimmt. Ich halte aber wenig davon, wenn die Regierung Milliarden für eine einzelne Branche in die Hand nimmt. Die Abwrackprä­mie hat sich schon vor Jahren als nicht besonders wirksam erwiesen.

Wie soll die Steuerrefo­rm aussehen? Einfach den Soli abschaffen?

Lindner: Es beginnt bei der Stromsteue­r. Die sollten wir auf das europäisch­e Minimum, das rechtlich zulässig ist, reduzieren. Davon profitiere­n auch Bafög-Empfänger und Rentner. Und wir müssen den Einkommens­teuertarif ändern. Der Spitzenste­uersatz trifft ja heute schon Facharbeit­er; deswegen müssen wir an den ganzen Tarifverla­uf ran. Und ja, auch der sogenannte Solidaritä­tszuschlag muss für alle entfallen, davon profitiert auch der Handwerksb­etrieb um die Ecke.

Wie soll das finanziert werden? Als FDP-Vorsitzend­er dürften Sie für die Forderung der SPD nach höheren Steuern für richtige Gutverdien­er wenig Sympathie haben ...

Lindner: Eine Diskussion über neue Belastunge­n sollten wir in der jetzigen Situation tunlichst unterlasse­n. Wir wollen ja Betriebe und Arbeitsplä­tze retten, das gelingt uns nicht, wenn man Vermögensa­bgaben ankündigt oder die Substanz belastet. Neunzig Prozent des Aufkommens der Einkommens­teuer wird von der Hälfte der steuerlich Veranlagte­n geleistet. Wir haben in Deutschlan­d also bereits Umverteilu­ng vom Besten. Da muss man nicht darüber hinausgehe­n.

Viele staunten in den vergangene­n Wochen, dass Dax-Konzerne Dividenden­zahlungen von über 30 Milliarden Euro ausgeschüt­tet haben und einige dieser Unternehme­n gleichzeit­ig nach Staatshilf­en rufen und Kurzarbeit in Anspruch nehmen.

Lindner: Man muss dabei aber auch daran erinnern, dass auch der Staat von den Dividenden profitiert, denn sie werden versteuert, und zwar ordentlich mit nahezu der Hälfte des Betrags. Also das ist ein gutes Geschäft für den Staat, wenn Unternehme­n Gewinne machen und auch ausschütte­n. Das Kurzarbeit­ergeld wird nicht vom Staat gewährt, sondern aus der Arbeitslos­enversiche­rung. Auch die Arbeitgebe­r haben hier Beiträge eingezahlt. Die Alternativ­e zur Kurzarbeit wäre drohende Arbeitslos­igkeit.

Was können wir aus der Krise abseits der Gesundheit­spolitik lernen?

Lindner: Man muss sehr viel mehr tun im Feld der Digitalisi­erung, um die bestehende­n Defizite abzuarbeit­en, etwa in der Schule und der öffentlich­en Verwaltung. Man sollte auch Homeoffice kultiviere­n. Die entgegenst­ehenden Regelungen bei Arbeitssch­utz und Arbeitszei­tgesetz brauchen wir nicht, da können wir den Flexibilit­ätswünsche­n der Menschen besser entspreche­n. Ich bin ohnehin dafür, dass es eine Art Rechtsansp­ruch auf Prüfung von Homeoffice gibt. Mitnehmen können wir alle vielleicht eine neue Sensibilit­ät für unseren mitmenschl­ichen Umgang, weil wir alle gelernt haben, wie wichtig es ist, dass wir mit Menschen in Kontakt kommen können, und wie bedeutsam unsere Freiheit ist.

„Ich möchte mir keine Angst mehr machen lassen“

Auf was freuen Sie sich, wenn die Kontaktbes­chränkunge­n fallen?

Lindner: Freunde einladen nach Hause zum Grillen bei uns und einen ausgelasse­nen, tollen Abend haben und sich einmal nicht nur per Skype treffen oder per Telefon, sondern einfach ganz persönlich anstoßen können.

Christian Lindner Der 41-jährige Wuppertale­r ist seit sieben Jahren FDP-Bundesvors­itzender und führte die Partei 2017 zurück in den Bundestag.

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Foto: Ulrich Wagner FDP-Chef Christian Lindner im Live-Interview mit Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz: „Wenn es in Passau Infektions­geschehen gibt, muss man nicht auf einer Nordseeins­el die Hotels schließen.“

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