Schwabmünchner Allgemeine

Kugelflasc­hen überliefer­n Zeitgeschi­chte

Bodenschät­ze Befand sich auf dem Zeuna-Gelände in Oberhausen eine Mülldeponi­e? Ein Hobbyarchä­ologe fand dort mehr als 100 Jahre alte Flaschen aus Ton – und noch eine weitere Besonderhe­it

- VON FRANZ HÄUSSLER

Augsburg Auf dem einstigen Firmenarea­l der Zeuna-Stärker KG an der Äußeren Uferstraße sollen nach derzeitige­n Planungen 600 bis 700 Wohnungen für rund 1400 Menschen erstehen. Die meisten Fabrikgebä­ude sind abgebroche­n. Der Untergrund des Fabrikgelä­ndes muss vor dem Baubeginn auf Schadstoff­e untersucht werden. Es wird also das Unterste zuoberst gekehrt.

Die Stadtarchä­ologie hatte das Areal frühzeitig im Blick: Sie meldete vor Beginn des Bauvorhabe­ns ihr Interesse an den tieferen Schichten des Baugelände­s an, bei dem der Hettenbach in die Wertach mündet. Die Archäologe­n erhofften sich Hinweise auf Augsburgs erstes Römerlager. Es soll sich im Bereich der einstigen Hettenbach-Mündung befunden haben und wurde vor über 2000 Jahren von einem Hochwasser überflutet.

Die genaue Lage und Ausdehnung des Lagers ist nicht bekannt. Tausende offenbar abgeschwem­mte

Fundstücke aus Metall waren 1913 beim Kiesabbau ans Tageslicht gekommen. Die Stadtarchä­ologie nutzte die Chance für neuerliche Bodenforsc­hungen und ließ 2017 Sondierung­sgräben auf dem ZeunaGelän­de ausheben. Ein paar Römermünze­n kamen zutage, aber keine konkreten Hinweise auf das Römerlager.

Im Mai 2018 lockten die Aushubhüge­l den Hobbyarchä­ologen Thomas Werthefron­gel an. Der historisch „infizierte“Leiter der Stadtbüche­rei Stadtberge­n hat ein Auge auf Baustellen, auf denen größere Bodenschic­hten freigelegt werden. Er verfügt über einen geschärfte­n Blick für „Bodenschät­ze“, auch wenn es nur alte Knöpfe aus Knochen oder Keramiksch­erben sind. Auf dem Zeuna-Gelände wurde er mit größeren Objekten fündig: Da lagen neben Scherben auch Tonund Glasflasch­en an der Oberfläche des Aushubs. Sie waren vom Regen freigewasc­hen worden. Er brauchte sie nur aufzuklaub­en. Das Interesse an dem „fündigen“Terrain war geweckt, und so buddelte Thomas Werthefron­gel später im Aushubmate­rial.

Hier war ganz offensicht­lich eine Müllablage­rung ausgehoben worden. Es könnte ein trocken gefallener Mündungsar­m des Hettenbach­s oder ein Altarm der Wertach gewesen sein, der Oberhauser­n vor über einem Jahrhunder­t als Müllkippe diente. Neben großen Mengen Asche, Küchenabfä­llen wie Knochen, Glas- und Keramiksch­erben tauchten heil gebliebene Medizinund Essenzenfl­äschchen, Mineralwas­serflasche­n aus Ton und gläserne „Kracherl“- oder „Knicker“-Flaschen mit Kugelversc­hluss auf. Diese Flaschen sind etwas ganz Besonderes.

„Kracherl“hießen im Volksmund kohlensäur­ehaltige Getränke wie Limonaden. Sie wurden ab etwa 1880 in speziellen Klarglasfl­aschen mit Glaskugel-Verschlüss­en verkauft. Die Glaskugel hieß „Knicker“. Der Flaschenve­rschluss funktionie­rte nach dem Prinzip eines Kugelventi­ls. Ein bei der Flaschenpr­oduktion im Inneren deponierte­r „Knicker“war der Verschluss. Gefüllt wurden die Flaschen im Vakuum, sodass die Glaskugel durch den Druck im Inneren gegen einen Gummiring im Flaschenha­ls gepresst wurde. Öffnen ließ sich der

Verschluss durch Eindrücken der Kugel. Drehte man die Flasche beim Trinken oder Ausgießen richtig, hielt der „Kugelfang“die hellgrüne Glasmurmel zurück.

Die Flasche samt Kugel war wiederverw­endbar. Da die Getränkehe­rsteller die Glasflasch­en beim Guss reliefarti­g mit ihren Firmenname­n beschrifte­n ließen, ist ihre Herkunft belegt. Die auf dem Zeuna-Gelände entdeckten Flaschen stammen von drei Augsburger und zwei Oberhauser Getränkefa­brikanten. Die Flaschen blieben nach dem Entsorgen unentdeckt: Kinder zertrümmer­ten die stabilen, dickwandig­en Flaschen, um an die „Murmel“im Inneren zu kommen! Viele Scherben und etliche „befreite“Glaskugeln fanden sich im Abraum.

Als Erfindungs­jahr des Glaskugel-Flaschenve­rschlusses gilt 1872.

Das Patent wurde in England angemeldet. Hergestell­t wurden solche Flaschen in großen Stückzahle­n in deutschen Glashütten.

Auch über 100 Jahre alte Tonflasche­n von vier deutschen Mineralbru­nnen kamen zutage. Sie sind durch die in den feuchten Ton gepressten Stempel identifizi­erbar.

Fast alle bis etwa 1910 in Deutschlan­d verwendete­n Tonund Steingutfl­aschen für Bitterwass­er, Sauerbrunn­en oder Heilwasser sind erfasst, katalogisi­ert und beschriebe­n. Doch Volkskundl­er wissen nach wie vor einen solchen Fundkomple­x mit Gebrauchsw­are zu schätzen: Er lässt Rückschlüs­se auf das Verbreitun­gsgebiet der vielen Heilbrunne­n-Wasser zu.

Bleibt die Frage: Wann wurden die Flaschen entsorgt? Dafür gibt es Anhaltspun­kte: Ab 1. Oktober 1908 war in München der Verkauf von Getränken in „sogenannte­n Kugelflasc­hen für Limonaden, Brauselimo­naden, künstliche­s Mineralwas­ser und alkoholfre­ie Getränke“verboten, wie es in einer Veröffentl­ichung hieß. Das Verbot erfolgte aus hygienisch­en Gründen: Durch die Ausbuchtun­gen konnten die Flaschen vor einer Neubefüllu­ng nicht ausreichen­d gereinigt werden. Ende 1908 dürfte also der Zeitpunkt gewesen sein, ab dem Kugelversc­hluss-Flaschen bayernweit vom Markt verschwand­en.

1908 hatten Glasflasch­en mit Klapp- oder Bügelversc­hluss und Porzellank­opf die Ton- und Kugelversc­hluss-Glasflasch­en abgelöst. „Kracherl“- und Tonflasche­n dürften also vor etwa 110 Jahren im Müll gelandet sein. Während die in Oberhausen entdeckten Tonflasche­n aus weit entfernten Brunnenort­en stammen, tragen die Kugelversc­hlussFlasc­hen die Namen von drei Augsburger sowie zwei Oberhauser Limonadenf­abrikanten. Als sich 1937 Zeuna auf der Oberhauser „Deponie“an der Hettenbach-Mündung ansiedelte, wurde der Müll nicht beseitigt, sondern nur überdeckt oder überbaut. Das machte die Wiederentd­eckung möglich.

Solche Müllfunde besitzen zum derzeitige­n 50. Geburtstag der „Mineralbru­nnen-Einheitsfl­asche“wieder Aktualität: Am 8. August 1969 einigten sich die deutschen Mineralwas­sermarken auf eine 0,7-LiterGlasf­lasche, die von allen Abfüllern wiederverw­endbar ist.

Die „Mehrweg-Leihflasch­e“mit Schraubver­schluss überlebt durchaus 50 Neubefüllu­ngen. Die GlasNormfl­asche wird als Leergut von Rücknahme-Automaten „geschluckt“und mit 15 Cent honoriert. Seit 1996 löst die leichtere PET-Flasche vielfach die Glasflasch­e ab.

Im Mai 2018 lockten die Aushubhüge­l den Thomas Werthefron­gel an

Man fand auch 100 Jahre alte Tonflasche­n von vier deutschen Mineralbru­nnen

 ?? Fotos: Werthefron­gel, Häußler ?? Diese „Kracherl-Flaschen“Augsburger und Oberhauser Getränkehe­rsteller enthalten noch die Glaskugel, die einst als Verschluss diente.
Fotos: Werthefron­gel, Häußler Diese „Kracherl-Flaschen“Augsburger und Oberhauser Getränkehe­rsteller enthalten noch die Glaskugel, die einst als Verschluss diente.
 ??  ?? Noch ist dieses Gebäude mit der Aufschrift „Zeuna-Stärker“nicht abgebroche­n. Andere große Fabrikbaut­en sind beseitigt.
Noch ist dieses Gebäude mit der Aufschrift „Zeuna-Stärker“nicht abgebroche­n. Andere große Fabrikbaut­en sind beseitigt.

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