Kugelflaschen überliefern Zeitgeschichte
Bodenschätze Befand sich auf dem Zeuna-Gelände in Oberhausen eine Mülldeponie? Ein Hobbyarchäologe fand dort mehr als 100 Jahre alte Flaschen aus Ton – und noch eine weitere Besonderheit
Augsburg Auf dem einstigen Firmenareal der Zeuna-Stärker KG an der Äußeren Uferstraße sollen nach derzeitigen Planungen 600 bis 700 Wohnungen für rund 1400 Menschen erstehen. Die meisten Fabrikgebäude sind abgebrochen. Der Untergrund des Fabrikgeländes muss vor dem Baubeginn auf Schadstoffe untersucht werden. Es wird also das Unterste zuoberst gekehrt.
Die Stadtarchäologie hatte das Areal frühzeitig im Blick: Sie meldete vor Beginn des Bauvorhabens ihr Interesse an den tieferen Schichten des Baugeländes an, bei dem der Hettenbach in die Wertach mündet. Die Archäologen erhofften sich Hinweise auf Augsburgs erstes Römerlager. Es soll sich im Bereich der einstigen Hettenbach-Mündung befunden haben und wurde vor über 2000 Jahren von einem Hochwasser überflutet.
Die genaue Lage und Ausdehnung des Lagers ist nicht bekannt. Tausende offenbar abgeschwemmte
Fundstücke aus Metall waren 1913 beim Kiesabbau ans Tageslicht gekommen. Die Stadtarchäologie nutzte die Chance für neuerliche Bodenforschungen und ließ 2017 Sondierungsgräben auf dem ZeunaGelände ausheben. Ein paar Römermünzen kamen zutage, aber keine konkreten Hinweise auf das Römerlager.
Im Mai 2018 lockten die Aushubhügel den Hobbyarchäologen Thomas Werthefrongel an. Der historisch „infizierte“Leiter der Stadtbücherei Stadtbergen hat ein Auge auf Baustellen, auf denen größere Bodenschichten freigelegt werden. Er verfügt über einen geschärften Blick für „Bodenschätze“, auch wenn es nur alte Knöpfe aus Knochen oder Keramikscherben sind. Auf dem Zeuna-Gelände wurde er mit größeren Objekten fündig: Da lagen neben Scherben auch Tonund Glasflaschen an der Oberfläche des Aushubs. Sie waren vom Regen freigewaschen worden. Er brauchte sie nur aufzuklauben. Das Interesse an dem „fündigen“Terrain war geweckt, und so buddelte Thomas Werthefrongel später im Aushubmaterial.
Hier war ganz offensichtlich eine Müllablagerung ausgehoben worden. Es könnte ein trocken gefallener Mündungsarm des Hettenbachs oder ein Altarm der Wertach gewesen sein, der Oberhausern vor über einem Jahrhundert als Müllkippe diente. Neben großen Mengen Asche, Küchenabfällen wie Knochen, Glas- und Keramikscherben tauchten heil gebliebene Medizinund Essenzenfläschchen, Mineralwasserflaschen aus Ton und gläserne „Kracherl“- oder „Knicker“-Flaschen mit Kugelverschluss auf. Diese Flaschen sind etwas ganz Besonderes.
„Kracherl“hießen im Volksmund kohlensäurehaltige Getränke wie Limonaden. Sie wurden ab etwa 1880 in speziellen Klarglasflaschen mit Glaskugel-Verschlüssen verkauft. Die Glaskugel hieß „Knicker“. Der Flaschenverschluss funktionierte nach dem Prinzip eines Kugelventils. Ein bei der Flaschenproduktion im Inneren deponierter „Knicker“war der Verschluss. Gefüllt wurden die Flaschen im Vakuum, sodass die Glaskugel durch den Druck im Inneren gegen einen Gummiring im Flaschenhals gepresst wurde. Öffnen ließ sich der
Verschluss durch Eindrücken der Kugel. Drehte man die Flasche beim Trinken oder Ausgießen richtig, hielt der „Kugelfang“die hellgrüne Glasmurmel zurück.
Die Flasche samt Kugel war wiederverwendbar. Da die Getränkehersteller die Glasflaschen beim Guss reliefartig mit ihren Firmennamen beschriften ließen, ist ihre Herkunft belegt. Die auf dem Zeuna-Gelände entdeckten Flaschen stammen von drei Augsburger und zwei Oberhauser Getränkefabrikanten. Die Flaschen blieben nach dem Entsorgen unentdeckt: Kinder zertrümmerten die stabilen, dickwandigen Flaschen, um an die „Murmel“im Inneren zu kommen! Viele Scherben und etliche „befreite“Glaskugeln fanden sich im Abraum.
Als Erfindungsjahr des Glaskugel-Flaschenverschlusses gilt 1872.
Das Patent wurde in England angemeldet. Hergestellt wurden solche Flaschen in großen Stückzahlen in deutschen Glashütten.
Auch über 100 Jahre alte Tonflaschen von vier deutschen Mineralbrunnen kamen zutage. Sie sind durch die in den feuchten Ton gepressten Stempel identifizierbar.
Fast alle bis etwa 1910 in Deutschland verwendeten Tonund Steingutflaschen für Bitterwasser, Sauerbrunnen oder Heilwasser sind erfasst, katalogisiert und beschrieben. Doch Volkskundler wissen nach wie vor einen solchen Fundkomplex mit Gebrauchsware zu schätzen: Er lässt Rückschlüsse auf das Verbreitungsgebiet der vielen Heilbrunnen-Wasser zu.
Bleibt die Frage: Wann wurden die Flaschen entsorgt? Dafür gibt es Anhaltspunkte: Ab 1. Oktober 1908 war in München der Verkauf von Getränken in „sogenannten Kugelflaschen für Limonaden, Brauselimonaden, künstliches Mineralwasser und alkoholfreie Getränke“verboten, wie es in einer Veröffentlichung hieß. Das Verbot erfolgte aus hygienischen Gründen: Durch die Ausbuchtungen konnten die Flaschen vor einer Neubefüllung nicht ausreichend gereinigt werden. Ende 1908 dürfte also der Zeitpunkt gewesen sein, ab dem Kugelverschluss-Flaschen bayernweit vom Markt verschwanden.
1908 hatten Glasflaschen mit Klapp- oder Bügelverschluss und Porzellankopf die Ton- und Kugelverschluss-Glasflaschen abgelöst. „Kracherl“- und Tonflaschen dürften also vor etwa 110 Jahren im Müll gelandet sein. Während die in Oberhausen entdeckten Tonflaschen aus weit entfernten Brunnenorten stammen, tragen die KugelverschlussFlaschen die Namen von drei Augsburger sowie zwei Oberhauser Limonadenfabrikanten. Als sich 1937 Zeuna auf der Oberhauser „Deponie“an der Hettenbach-Mündung ansiedelte, wurde der Müll nicht beseitigt, sondern nur überdeckt oder überbaut. Das machte die Wiederentdeckung möglich.
Solche Müllfunde besitzen zum derzeitigen 50. Geburtstag der „Mineralbrunnen-Einheitsflasche“wieder Aktualität: Am 8. August 1969 einigten sich die deutschen Mineralwassermarken auf eine 0,7-LiterGlasflasche, die von allen Abfüllern wiederverwendbar ist.
Die „Mehrweg-Leihflasche“mit Schraubverschluss überlebt durchaus 50 Neubefüllungen. Die GlasNormflasche wird als Leergut von Rücknahme-Automaten „geschluckt“und mit 15 Cent honoriert. Seit 1996 löst die leichtere PET-Flasche vielfach die Glasflasche ab.
Im Mai 2018 lockten die Aushubhügel den Thomas Werthefrongel an
Man fand auch 100 Jahre alte Tonflaschen von vier deutschen Mineralbrunnen