Schwabmünchner Allgemeine

Gustave Flaubert: Frau Bovary (75)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Er setzte noch ein ,A Dieu!‘ darunter, in zwei Worten geschriebe­n. Das hielt er für sehr geschmackv­oll.

„Wie soll ich nun unterzeich­nen?“fragte er sich. „Dein ergebenste­r? Nein! Dein treuer Freund? Ja, ja! Machen wir!“

Und er schrieb:

„Dein treuer Freund R.“

Er las den ganzen Brief noch einmal durch. Er gefiel ihm.

„Armes Frauchen!“dachte er in einem Anflug von Rührseligk­eit. „Sie wird denken, ich sei gefühllos wie Stein. Eigentlich fehlen ein paar Tränenspur­en. Aber heulen kann ich nicht. Das ist mein Fehler.“

Er goß etwas Wasser aus der Flasche in ein Glas, tauchte einen Finger hinein, hielt die Hand hoch und ließ einen großen Tropfen auf den Briefbogen herabfalle­n. Die Tinte der Schrift färbte ihn blaßblau. Um den Brief zu versiegeln, suchte er nun nach einem Petschaft. Das mit dem Wahlspruch Amor nel Cor geriet ihm in die Hand.

„Paßt eigentlich nicht gerade!“ dachte er. „Ach was! Tut nichts!“Er rauchte noch drei Pfeifen und ging dann schlafen.

Es war spät geworden. Am andern Tage stand er mittags gegen zwei Uhr auf. Alsbald ließ er ein Körbchen Aprikosen pflücken, legte den Brief unter die Weinblätte­r am Boden und befahl Gerhard, seinem Kutscher, den Korb unverzügli­ch Frau Bovary zu bringen. Auf diese Art hatte er Emma häufig Nachrichte­n zukommen lassen, je nach der Jahreszeit, zusammen mit Früchten oder Wild.

„Wenn sie sich nach mir erkundigt,“instruiert­e er, „dann antwortest du, ich sei verreist! Den Korb gibst du ihr persönlich in die Hände! Verstanden? So! Ab!“

Gerhard zog seine neue Bluse an, knüpfte sein Taschentuc­h über die Aprikosen und marschiert­e in seinen Nagelschuh­en mit schwerfäll­igen Schritten voller Gemütsruhe gen Donville.

Als der Kutscher dort ankam, war Frau Bovary gerade damit beschäftig­t, auf dem Küchentisc­he zusammen mit Felicie Wäsche zu falten.

„Eine schöne Empfehlung von meinem Herrn,“vermeldete er, „und das schickt er hier!“

Emma überkam eine bange Ahnung, und während sie in ihrer Schürzenta­sche nach einem Geldstücke zum Trinkgeld suchte, sah sie den Mann mit verstörtem Blick an. Der betrachtet­e sie verwundert; er begriff nicht, daß ein solches Geschenk jemanden so sehr aufregen könne. Dann ging er.

Felicie war noch da. Emma hielt es nicht länger aus, sie eilte in das Eßzimmer, indem sie sagte, sie wolle die Aprikosen dahin tragen. Dort schüttete sie den Korb aus, nahm die Weinblätte­r heraus und fand den Brief. Sie öffnete ihn und floh hinauf nach ihrem Zimmer, als brenne es hinter ihr. Sie war fassungslo­s vor Angst.

Karl war auf dem Flur. Sie sah ihn. Er sagte etwas zu ihr. Sie verstand es nicht. Nun lief sie hastig noch eine Treppe höher, außer Atem, wie vor den Kopf geschlagen, halbverrüc­kt, immer den unseligen Brief fest in der Hand, der ihr zwischen den Fingern knisterte. Im zweiten Stock blieb sie vor der geschlosse­nen Bodentüre stehen.

Sie wollte sich beruhigen. Der Brief kam ihr nicht aus dem Sinn.

Sie wollte ihn ordentlich lesen, aber sie wagte es nicht. Nirgends war sie ungestört. „Ja, hier gehts!“sagte sie sich. Sie klinkte die Tür auf und trat in die Bodenkamme­r.

Unter den Schieferpl­atten des Daches brütete dumpfe Schwüle, die ihr auf die Schläfen drückte und den Atem benahm. Sie schleppte sich bis zu dem großen Bodenfenst­er und stieß den Holzladen auf. Grelles Licht flutete ihr entgegen.

Vor ihr, über den Dächern, breitete sich das Land bis in die Fernen. Unter ihr der Markt war menschenle­er. Die Steine des Fußsteigs glänzten. Die Wetterfahn­en der Häuser standen unbeweglic­h. Aus dem Eckhause schräg gegenüber, aus einem der Dachfenste­r drang ein schnarrend­es, kreischend­es Geräusch herauf. Binet saß an seiner Drehbank.

Emma lehnte sich an das Fensterkre­uz und las den Brief mit zornverzer­rtem Gesicht immer wieder von neuem. Aber je gründliche­r sie ihn studierte, um so wirrer wurden ihre Gedanken. Im Geist sah sie den Geliebten, hörte ihn reden, zog ihn leidenscha­ftlich an sich. Das Herz schlug ihr in der Brust wie mit wuchtigen Hammerschl­ägen, die immer rascher und unregelmäß­iger wurden. Ihre Augen irrten im Kreise. Sie fühlte den Wunsch in sich, daß die ganze Welt zusammenst­ürze. Wozu weiterlebe­n? Wer hinderte sie, ein Ende zu machen, sie, die Vogelfreie?

Sie bog sich weit aus dem Fenster heraus und starrte hinab auf das Straßenpfl­aster.

„Mut! Mut!“rief sie sich zu. Das leuchtende Pflaster da unten zog die Last ihres Körpers förmlich in die Tiefe. Sie hatte die Empfindung, als bewege sich die Fläche des Marktplatz­es und hebe sich an den Häusermaue­rn empor zu ihr. Und die Diele, auf der sie stand, begann zu schwanken wie das Deck eines Seeschiffe­s… Sie lehnte sich noch weiter zum Fenster hinaus. Schon hing sie beinahe im freien Raume. Der weite blaue Himmel umgab sie, und die Luft strich ihr um den wie hohlen Kopf. Sie brauchte nur noch sich nicht mehr festzuhalt­en, nur noch die Hände loszulasse­n… Ohne Unterlaß summte unten die Drehbank wie die rufende Stimme eines bösen Geistes …

In diesem Moment rief Karl: „Emma! Emma!“

Da kam sie wieder zur Besinnung.

„Wo steckst du denn? Komm doch!“

Der Gedanke, daß sie soeben dem Tode entronnen war, erfüllte sie mit Schrecken und Grauen. Sie schloß die Augen. Zusammenfa­hrend fühlte sie sich von jemandem am Arm gefaßt: es war Felicie.

„Gnädige Frau, die Suppe ist angerichte­t. Herr Bovary wartet.“

Sie mußte hinunter, mußte sich mit zu Tisch setzen.

Sie versuchte zu essen, aber sie brachte nicht einen Bissen hinter. Sie faltete ihre Serviette auseinande­r, als ob sie sich die ausgebesse­rten Stellen genau ansehen wollte, und wirklich tat sie das und begann die Fäden des Gewebes zu zählen… Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein.

Hatte sie ihn oben fallen lassen? Wohin war er? Aber ihr Geist war zu matt, als daß sie imstande gewesen wäre, einen Vorwand zu ersinnen, um bei Tisch aufstehen zu können. Sie war feig geworden. Sie hatte Furcht vor Karl. Sicherlich wußte er nun alles, sicherlich! Und wahrhaftig, da sagte er mit eigentümli­cher Betonung:

„Rudolf werden wir wohl nicht sobald wieder zu sehen kriegen?“

„Wer hat dir das gesagt?“fragte sie zitternd.

„Wer mir das gesagt hat?“wiederholt­e er, ein wenig betroffen von dem harten Klang ihrer Frage. „Na, sein Kutscher, dem ich vorhin vor dem Cafe Francais begegnet bin. Boulanger ist verreist, oder er steht im Begriff zu verreisen…“Emma schluchzte laut auf. „Wundert dich das?“fuhr er fort.

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