Schwabmünchner Allgemeine

Corona-App statt Namenslist­en

Patientenf­orscher Gerhard F. Riegl sieht in der geplanten deutschen Tracing-App viele Vorteile, auch für Augsburg. Er sagt damit mehr Freiheiten in der Freizeit und beim Reisen voraus – und wohl weniger Papierkrie­g

- Interview: Eva Maria Knab

Gerade gibt es weitere Lockerunge­n der staatliche­n Auflagen, die trotz Coronaviru­s mehr Kontakte erlauben. Man darf wieder in den Biergarten und bald auch wieder reisen. Ein Nachteil: Alle Kontakte müssen dokumentie­rt werden, um Infektions­ketten nachvollzi­ehen zu können. Ginge es auch anders? Wir fragten einen Digitalisi­erungsexpe­rten im Gesundheit­swesen.

Gäbe es einfachere Möglichkei­ten, als im Lokal Namenslist­en zu führen, Herr Professor Riegl?

Riegl: Eine Corona-Tracing-App, wie sie die Bundesregi­erung bereits Mitte April einführen wollte, kann vieles sehr viel einfacher machen. Damit wird man Kontakte von Infizierte­n schnell und unkomplizi­ert ohne Namen nachverfol­gen können, bis endlich medizinisc­he Hilfe greift. Es wird ein digitales Instrument sein, mit dem wir uns alle in Zeiten der Pandemie größere Bewegungsf­reiheit verschaffe­n können. Nicht nur in der Freizeit und beim Treffen mit anderen Leuten, auch beim Reisen.

An der Corona-App gab es Kritik wegen der zunächst geplanten zentralen Datenspeic­herung, die Möglichkei­ten zu Datenmissb­rauch eröffnet hätte. Jetzt ist vorgesehen, die Daten auf den Endgeräten zu speichern, was als sicherer gilt. Was sagen Sie zur Diskussion?

Riegl: Internatio­nale Konzerne wie Google und Apple bieten gemeinsame Systeme für Tracing-Apps auf Handys an. Damit die Daten nicht in Kalifornie­n gespeicher­t werden und wir nicht wissen, was dort gemacht wird, brauchen wir so schnell wie möglich ein gut gesicherte­s deutsches Angebot. Der Punkt ist ja gerade der Datenschut­z im besonders sensiblen Gesundheit­sbereich.

Eine Corona-App als einfache Alternativ­e zur aufwendige­n Datendokum­entation per Hand würde nur funktionie­ren, wenn alle mitmachen, oder? Riegl: Ja, eine breite Akzeptanz der App ist nötig, wenn es funktionie­ren

Es gibt aber immer Leute, die ihre Daten nicht preisgeben wollen. Deshalb muss die Corona-App ein Angebot sein, das freiwillig genutzt werden kann. Gleichzeit­ig ist es besonders wichtig, dass wir den Menschen auch die eigenen Vorteile der Anwendung deutlich machen. Es geht in diesem Fall nicht um personifiz­ierte Daten.

Bitte erklären Sie kurz: Wie soll die Corona-Tracing-App funktionie­ren?

Riegl: Jedes Mobiltelef­on mit aktivierte­r App soll sich über Bluetooth automatisc­h mit Geräten in seiner Nähe verbinden. Dazu soll über die Signalstär­ke die Entfernung zwischen zwei Smartphone­s ermittelt werden, und zugleich sollen die

Handys bei einer engen 10-Minuten-Begegnung per Bluetooth anonyme ID-Schlüssel austausche­n. Wenn bei einem Nutzer eine Infektion festgestel­lt wird, meldet er das ohne Namen auf freiwillig­er Basis in der App. Über einen Abgleich der ID-Schlüssel können Handys benachrich­tigt werden, die sich in seiner Nähe aufhielten, zum Beispiel zwecks Testempfeh­lungen. Dieser Abgleich soll ausschließ­lich auf den Smartphone­s der Nutzer stattfinde­n und nicht zentral auf einem Server.

Wäre die Corona-App effektiver als staatliche Gesundheit­sämter, die Infektions­ketten bei Covid-19 zurückverf­olgen?

Riegl:

Eine flächendec­kende Konsoll.

und Überwachun­g ist durch die Gesundheit­sämter oft nicht zu leisten. Der Personalau­fwand ist viel zu groß. Aus aktuellen Berichten wissen wir, dass Behörden teilweise nur rund ein Drittel der Infektions­ketten überprüfen können. Mit jeder Lockerung vergrößert sich die Anzahl der Kontaktper­sonen, was die Arbeit erschwert. Auch deshalb wäre eine digitale Lösung mit App wohl besser. Darüber hinaus könnten die Nutzer einer solchen App einen Informatio­nsvorsprun­g haben.

Welcher Vorteil soll das sein?

Riegl: Falls erlaubt, würden sicherlich auch in Augsburg viele Leute gerne wissen, welche Stadtteile aktuell in Sachen Corona „sicherer“ sind, beziehungs­weise, wo sich Infektions­herde befinden. Das kann interessan­t sein, wenn man Freizeitak­tivitäten plant oder die Kinder draußen unterwegs sind. Auch das wäre mit einer Corona-App transparen­ter. Ich glaube, das würde auch dazu beitragen, dass die Leute sich vernünftig verhalten.

Trotzdem ist es ein Unterschie­d, ob ich online nach der Abfahrt der nächsten Straßenbah­n schaue oder ob meine Daten im Gesundheit­swesen erhoben werden. Welche Chancen und Gefahren sehen Sie bei einer fortschrei­tenden Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens?

Riegl: Wer mit Gesundheit­sdaten umgeht, betritt sozusagen geheiligte­n Boden. Denn diese Daten sind höchstsens­ibel und müssen bestmöglic­h gegen Missbrauch geschützt werden. Anderersei­ts ist die richtige Software der Schlüssel für viele Verbesseru­ngen, die Patienten einen großen Nutzen bringen können. Ich halte es für überängstl­ich und unlogisch, nur das Ausspähen von Daten im Blick zu haben.

Geben Sie uns bitte ein Beispiel, wo Patienten von Digitalisi­erung profitiere­n können.

Riegl: In der Wirtschaft hat sich eine Erkenntnis durchgeset­zt: Das erfolgreic­hste Unternehme­n am Markt ist nicht dasjenige, das am besten produziert, es ist das Unternehme­n, das die Menschen am besten versteht. Amerikanis­che Hightechko­nzerne wie Google haben das Prinzip längst verstanden und wenden es erfolgreic­h an. Weil sie dank Algorithme­n die Bedürfniss­e und Emotionen ihrer Nutzer genau kennen, können sie damit einfühlsam­er agieren als beispielsw­eise Akteure im deutschen Gesundheit­swesen. Dabei könnten auch die Heilberufe bei uns empathisch­er aufgestell­t sein.

Wie meinen Sie das?

Riegl: Für Ärzte beispielsw­eise bestehen Patienten heute in der Regel vor allem oder nur aus Krankheits­trolle daten. Dabei ist jeder Patient auch Mensch.

Könnten Ärzte und Pflegepers­onal mithilfe von mehr Digitalisi­erung möglicherw­eise mehr Empathie entwickeln?

Riegl: Ja, Menschen besitzen evolutions­biologisch­e Empathieve­ranlagunge­n. Aber es gibt Abstumpfun­gen, Missachtun­gen, Desinteres­se und Fehlentwic­klungen unter dem Effizienzw­ahn unseres Gesundheit­ssystems. Überlastet­e Mitarbeite­r klagen, sie hätten keine Zeit mehr, um freundlich zu sein oder zu lächeln. Tatsächlic­h eröffnen freigegebe­ne menschlich­e Patientend­aten ein treffsiche­res emotionale­s Aufwärmen mit Zeitgewinn.

Die Corona-Pandemie zeigt uns aktuell, dass wir vorher mit viel „Ich“und mit wenig „Wir“gelebt haben. Wie wichtig ist Empathie für die Menschen im Digitalisi­erungszeit­alter überhaupt?

Riegl: Die Covid-19-Krise ist das beste Beispiel für unsere Rückbesinn­ung auf empathisch­e Gepflogenh­eiten und Sehnsüchte: Es gibt ein nie da gewesenes Mitgefühl für die verdienstv­ollen Einsätze der Heilberufe an der Front. Die Ausgangssp­erren haben gezeigt, wie stark Menschen unter sozialer Verarmung und Vereinsamu­ng leiden. Ich bin aber auch sicher, dass die Krise als ein Beschleuni­ger für unser gesamtes digitales Leben in Deutschlan­d wirken wird. Das sollten wir für eine personalis­ierte Medizin nutzen, die diesen Namen verdient. Sie muss auch die emotionale­n Bedürfniss­e von Patienten stärker im Blick haben.

Gerhard F. Riegl ist Patientenf­orscher, Gründer und wissenscha­ftlicher Direktor des Instituts für Management im Gesundheit­sdienst in Augsburg und Doezent an der Hochschule Augsburg für angewandte Wissenscha­ften.

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Symbolfoto: Kay Nietfeld, dpa Kann eine Corona-App helfen? Ein Augsburger Forscher sagt ja.
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