Das Dilemma der Wirte
Corona Die Gastronomen sind heilfroh, dass sie ihre Lokale wieder öffnen dürfen. Doch einfach ist ihre Situation keineswegs, wie der jüngste Polizeieinsatz in Augsburg zeigt. Eine Geschichte über halb volle Restaurants, uneinsichtige Gäste und die Frage,
Augsburg Stimmengewirr und Gelächter wabert an diesem Freitagabend über die Augsburger Maxstraße. Es ist kurz nach 23 Uhr, das zweite Wochenende nach Aufhebung der strikten Beschränkungen. Vieles aber wirkt in der Weggehmeile wie in den Vor-Corona-Tagen. Partygänger haben sich in Grüppchen rund um den Herkulesbrunnen versammelt. Wie an jedem Wochenende fahren aufgemotzte Autos, besetzt mit jungen Leuten, die Straße auf und ab, die Scheiben heruntergelassen, die Musik laut aufgedreht. Ungewohnt sind nur die langen Schlangen, die sich vor den wenigen geöffneten Bars gebildet haben. Und die vielen Polizisten und Mitarbeiter des Ordnungsdienstes, die an diesem Abend bereitstehen, um jeden Verstoß schnell und konsequent zu ahnden.
Vor einer Woche ist die Gastronomie aus ihrem erzwungenen Corona-Tiefschlaf erwacht. Doch in der Augsburger Innenstadt ist die Erleichterung, die mancher Gastronom angesichts der neuen Lage verspürt haben mag, längst der Ernüchterung gewichen. Das liegt an den Vorfällen von jenem lauen Freitagabend vor einer Woche. Viele hat es da ins Freie gezogen, auf Abstände wird kaum geachtet. Die CoronaRegeln scheinen bei einigen offenbar vergessen. Vor der Corso-Bar stehen die Leute Schlange für ein Bier oder einen Cocktail, laute Musik läuft. Irgendwann ruft der Ordnungsdienst der Stadt die Polizei zu Hilfe, weil es viel zu viele Menschen vor der Bar sind.
Was dann passiert, ist auf Handyvideos dokumentiert, die bundesweit Aufsehen erregten. Sie zeigen eine Auseinandersetzung zwischen mehreren Polizisten, der Wirtin der Corso-Bar und deren Mutter. Die Lage eskaliert, Gäste werfen Stühle und Tische um, solidarisieren sich mit der Wirtin, skandieren „Polizeigewalt“. Auf den Videos ist zu sehen, wie ein Polizist zuschlägt, offenbar gegen den Kopf einer der Frauen, und wie er zuvor von einer der Frauen so in den Oberschenkel gebissen wurde. Drei weitere Beamte werden bei dem Einsatz verletzt. Inzwischen prüft das Landeskriminalamt den Einsatz. Gegen die Wirtin und deren Mutter wird ermittelt, unter anderem wegen des Vorwurfs des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte.
Und es sind ja längst nicht die einzigen Fälle. In München muss die Polizei am selben Abend hundert Platzverweise in der Innenstadt aussprechen. In Nürnberg treffen sich zwei Tage später auf dem Reichsparteitagsgelände etwa 200 bis 300 Personen aus der Tuning-Szene, die Musik hören und tanzen. Es kommt zu einer Massenschlägerei, die Polizei nimmt 45 Personen fest.
Man könnte das als Partyexzesse abtun, als das, was eben wochenends so passiert. Doch die Situation ist komplizierter. In Augsburg etwa treibt nach den Krawallen vor dem Café Corso viele Gastronomen die
Sorge um, dass es mit den hart erkämpften Öffnungen schnell wieder vorbei sein könnte. Dass es sie letztlich die Existenz kosten könnte, wenn so mancher Gast unvernünftig handelt. Dabei ist die Situation für viele ohnehin schon kompliziert – zwischen Maskenpflicht und Abstandsregeln, zwischen hohen Kosten und niedrigen Umsätzen.
Nur ein paar Meter vom Café Corso entfernt betreibt Nadja Weinrich das „Bricks“, wo es Frühstück gibt, aber auch Cocktails für die Partygänger. Auch die 26-Jährige hat harte Wochen hinter sich. Umso mehr ist sie auf ihre Gäste angewiesen, auf das Geld, das sie an den Plätzen in ihrem Café und davor erwirtschaftet. „Wir versuchen uns an alle Vorschriften zu halten und wollen wirklich dazu beitragen, dass die Gastronomie weiterhin offen bleiben kann“, betont sie. „Wenn wegen solcher Zwischenfälle die gesamte Gastronomie leiden müsste, wäre das sehr schade.“
Alle Corona-Regeln umzusetzen, stellt eine gewaltige Belastung dar, sagt Weinrich. Für sie und ihre 30 Mitarbeiter. Da reicht es schon, so viele Stunden am Tag eine Maske zu tragen. Doch die Wirtin will nicht jammern. Sie hat reagiert, hat die Speisekarten, die nach jedem Gast desinfiziert werden müssten, kurzerhand durch QR-Codes ersetzt. „Der Gast liest den Code ein und hat die Speisekarte auf seinem Handy.“
Acht ihrer sonst 14 Tische darf Weinrich im „Bricks“besetzen – so sieht es die Abstandsregelung vor. „Was das finanziell für einen Verlust bedeutet, kann ich noch nicht abschätzen.“„Aber sie ist froh, dass sie überhaupt wieder geöffnet haben darf – nach den Wochen, in denen sie Speisen und Getränke nur zum Mitnehmen verkaufen konnte. „Jetzt ist fast das ganze Team wieder im Einsatz – es wird sich zeigen, ob der Umsatz die laufenden Kosten decken wird“, sagt sie.
Thomas Geppert weiß, dass die Rechnung bei vielen Wirten nicht aufgeht. „Viele meinen, dass die Gastronomen die schlimmste Zeit überstanden haben, jetzt, wo sie wieder öffnen dürfen“, sagt der Landesgeschäftsführer des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbands. „Aber eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall.“Vorher waren die Restaurants geschlossen, Köche und Servicemitarbeiter in Kurzarbeit.
Jetzt aber müssen die Gastwirte genug Umsatz machen, um die Kosten zu decken. „Doch dazu haben viele gar nicht die Möglichkeit, weil sie gar nicht die Kapazitäten haben“, sagt Geppert. Nicht bei den derzeit gültigen Abstandsregeln. Nicht, wo in den meisten Gaststätten im Vergleich zu normalen Zeiten gerade einmal die Hälfte der Gäste bewirtet werden kann. Geppert sagt: „Unsere Betriebe stehen am Anfang eines völlig offenen Überlebenskampfes.“Darum sei jede noch so kleine Lockerung wichtig.
Enzo Dragone blickt am Freitagabend zufriedener drein als noch Tage zuvor. Dass die Gäste in seiner Trattoria am Augsburger Judenberg jetzt bis 22 Uhr auch im Freien essen können, kam unverhofft. Erst am Nachmittag hatte die Bayerische Staatsregierung auf Druck eines Augsburger Gerichtsbeschlusses reagiert und die Regelung gelockert.
Dragones Probleme löst das immer noch nicht. „Selbst wenn wir voll ausgebucht sind, machen wir 30 bis 40 Prozent weniger Umsatz – das reicht nicht zum Überleben.“Statt 55 Plätzen hat er im Moment noch 32. „Eigentlich müsste ich die Gäste in mehreren Schichten bedienen – aber das will ich niemandem zumuten“, sagt Dragone. 30 Jahre lang hat er in der Pizzeria seines Bruders gearbeitet, bis er sich 2016 den Traum von der eigenen Trattoria in der Altstadt erfüllte. Mit Corona ist aus diesem Traum ein Albtraum geworden, sagt er. „Als wir am 18. März schließen mussten, ist für uns die Welt untergegangen.“
Während seine Frau Maria zunächst völlig verzweifelte, tröstete er sich damit, dass in Deutschland nie jemand im Stich gelassen werde. Tatsächlich konnte er mit den staatlichen Hilfen, Kurzarbeit und einem Abholservice für seine Speisen das Restaurant über die schwere Zeit retten. Doch jetzt braucht er Gäste. „Natürlich sind die meisten Auflagen notwendig – auch wenn ich nicht alle verstehe.“Er vermutet, dass die Beamten, die sich die Einschränkungen ausgedacht haben, wohl noch nie eine Gastronomie geführt haben.
In der Maxstraße haben die Mitarbeiter des Ordnungsdienstes vor dem Herkulesbrunnen Stellung bezogen. Eine Konsequenz des PartyExzesses vom vergangenen Wochenende, ebenso wie die großen Warnschilder, die Partygänger auf den vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 Metern aufmerksam machen sollen. Die Stadtmitarbeiter haben das Treiben im Blick – wann immer sich mehrere Menschen zu nahe kommen, gehen sie dazwischen und sorgen für Abstand. „Die Leute haben Verständnis und entschuldigen sich gleich, niemand will Ärger“, berichtet einer der blau uniformierten Männer. Trotzdem drückt das Aufgebot an Uniformträgern auf die Stimmung.
Schräg gegenüber, vor der CaipiBar, hat sich eine lange Schlange durstiger Nachtschwärmer gebildet. Sie warten geduldig darauf, einen der „1001 Cocktails zum Mitnehmen“zu bestellen, die auf einer Schiefertafel angepriesen werden. Veronika Bernhard und ihre Freundin Silke Fiegl sind glücklich, sich endlich wieder auf einen Cocktail treffen zu können – vor ihnen stehen große, mit Caipirinha gefüllte Plastikbecher und einem Strohhalm. „Die Größe ist der langen Schlange geschuldet“, sagt Silke Fiegl und lacht. „Schöner wär’s ohne die“, sagt ihre Freundin und zeigt auf einen Trupp Polizisten, der sich gerade auf den Weg macht, eine Ansammlung aufzulösen. Trotzdem ist der Abend in der Maxstraße für die Freundinnen eine willkommene Abwechslung, nach der langen Isolation wieder Menschen zu sehen und die Psyche aufzuladen, wie sie sagen. „Ich fand es schlimm, die ganze Zeit zu Hause sitzen zu müssen“, meint Silke Fiegl.
Nach den Wochen der Ausgangsbeschränkung endlich wieder ausgehen zu dürfen, ins Restaurant oder in eine Kneipe, das haben viele vermisst, sagt Christoph Klotter. Weil das Verbundenheit schaffe und soziale Zugehörigkeit, erklärt der Ernährungspsychologe von der HochDoch schule Fulda. Ebenso schnell aber könne die Stimmung kippen – so, wie es in der Augsburger Maxstraße passiert ist, weil viele sich gegen neue Regeln wie die Maskenpflicht oder das Abstandsgebot sträubten. „Regeln provozieren Trotz. Viele finden es schlichtweg gemein, dass ihre Freiheit eingeschränkt wird. Darum rasten Menschen derzeit aus den nichtigsten Gründen aus.“Die einen weigern sich, Abstand zu halten, andere werden aggressiv, weil sie nicht wie gewohnt feiern dürfen.
Leo Dietz kennt das Problem nur zu gut. „Die Menschen haben keine Lust mehr auf Beschränkungen. Sie wollen sich wieder treffen“, sagt der Klubbesitzer. Doch mit dieser Uneinsichtigkeit gefährdeten sie letztlich die Betreiber, die ohnehin in einer prekären Situation stecken. Denn es seien zwar die Gäste schuld, wenn sie sich unverantwortlich benehmen. „Aber die Wirte sind verantwortlich, dass im Umkreis ihres Lokals die Regeln befolgt werden.“
Vor dem „Peaches“in der Maxstraße, das Dietz betreibt, stehen an einem gewöhnlichen Freitagabend Feierwütige an. Jetzt ist der Klub dunkel. „Wir sind ein Körperkontaktbetrieb – das lässt sich mit den Corona-Bestimmungen einfach nicht unter einen Hut bringen“, sagt Dietz. Der Gastronom, der auch Kreisvorsitzender des bayerischen Hotel- und Gaststättenverbandes und Augsburgs CSU-Fraktionschef ist, sieht in den Nachtgastronomen die großen Verlierer der Corona-Krise. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in diesem Jahr überhaupt noch aufmachen können.“Während andere Lokale durch Liefer- oder Mitnahmeangebote zumindest einen Teil der Kosten erwirtschaften konnten, heiße
Aus dem Traum vom eigenen Lokal wurde ein Albtraum
„Corona macht uns nicht kaputt“, sagt einer
es für Klubs, Diskotheken und Konzertveranstalter „Null-Komma-Null-Umsatz“. Dabei gehe es nicht nur um die Betreiber. Auch DJs, Veranstaltungstechniker, Studenten stünden vor einem finanziellen Scherbenhaufen.
Dietz sorgt sich, dass die Krawalle auf der Maxstraße letztlich alle Gastronomen empfindlich treffen könnten – etwa, wenn die Regeln noch einmal verschärft werden. „Was den Zeitraum der Corona-Maßnahmen verlängert, ist für alle, die ums Überleben kämpfen, ein ganz klarer Dolchstoß.“Er hofft, dass alle Kollegen die Krise überstehen. „Ich bin seit 28 Jahren in der Maxstraße und habe viel kommen und gehen sehen. Corona sehe ich auch noch gehen, das macht uns nicht kaputt.“
Um Mitternacht hat die Kälte den größten Teil der Nachtschwärmer in der Augsburger Innenstadt vertrieben. Nur noch vereinzelt laufen junge Leute mit Bierflaschen oder Cocktailbechern in der Hand die Maxstraße entlang. Die Polizei wird am Tag darauf von einer ruhigen Partynacht sprechen. So mancher Gastronom in Augsburg dürfte aufatmen. Und hoffen, dass der Krawall vom Wochenende davor eine unrühmliche Ausnahme in diesen Corona-Tagen bleibt.