Schwabmünchner Allgemeine

Lateinamer­ika im Auge des Sturms

In keiner anderen Region ist die soziale Ungleichhe­it so krass: Viele Menschen fürchten den Hunger mehr als das Virus

- Denis Düttmann, Martina Farmbauer und Andrea Sosa, dpa

Rio de Janeiro Nach Asien, Europa und den USA hat die Corona-Pandemie nun Lateinamer­ika mit voller Kraft erwischt. In der Region trifft das Virus auf unterfinan­zierte Gesundheit­ssysteme, Millionen Arme ohne soziale Absicherun­g und eine generelle Skepsis gegenüber staatliche­n Anordnunge­n. Die Regierunge­n reagieren unterschie­dlich auf den unsichtbar­en Feind: Die einen setzen ihr ganzes Land unter Quarantäne, die anderen machen einfach so weiter wie bisher. Ein Blick auf das Infektions­geschehen zwischen Rio Grande und Feuerland:

● Brasilien Das größte und bevölkerun­gsreichste Land der Region ist der neue Hotspot der weltweiten Pandemie. Über eine halbe Million Menschen hat sich nachweisli­ch mit dem Virus infiziert – das bedeutet Platz zwei nach den USA –, und fast 30000 Patienten sind gestorben. Der rechtspopu­listische Präsident Jair Bolsonaro hingegen tut das Virus als „leichte Grippe“ab und will so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehr­en. Minister, die Bedenken äußern, werden gefeuert.

Gouverneur­e, die auf eigene Faust Schutzmaßn­ahmen anordnen, beschimpft der Ex-Militär als „Haufen Mist“. Während im Ausland Unverständ­nis über Bolsonaros Politik herrscht, könnte seine Botschaft bei vielen Brasiliane­rn verfangen. Fast jeder Zweite hat keinen Arbeitsver­trag, keine soziale Absicherun­g und keine Rücklagen. „Die Leute haben mehr Angst, vor Hunger zu sterben als vor dem Coronaviru­s“, sagt der Deutsche Bernhard Weber, der in den Favelas von Rio de Janeiro Lebensmitt­elpakete verteilt.

● Mexiko Präsident Andrés Manuel López Obrador konnte mit dem Konzept des Abstandhal­tens noch nie so recht etwas anfangen. „Man muss sich umarmen, da passiert schon nichts“, pflegt der Linkspopul­ist zu sagen, der bei seinen Auftritten Babys küsst, Großmütter herzt und Männer umarmt. Als die Infektions­zahlen im zweitgrößt­en Land Lateinamer­ikas stärker stiegen, erklärte die Regierung zwar den Gesundheit­snotstand und schickte nicht essenziell­e Branchen in eine Zwangspaus­e. Nun befindet sich Mexiko in der heißen Phase der Pandemie – mit rund 10000 Toten ist es auf Platz sieben der Länder mit den meisten Opfern. Trotzdem will Obrador in den nächsten Tagen schrittwei­se Mexiko zu einer „neuen Normalität“führen.

● Nicaragua Boxturnier­e, Festivals, Unterricht in vollen Klassensäl­en – in dem mittelamer­ikanischen Land geht das Leben seinen gewohnten Gang, als wäre nie etwas gewesen. Der autoritäre Präsident Daniel Ortega glaubt, das Coronaviru­s sei „ein Zeichen Gottes“, dass die Welt einen falschen Weg eingeschla­gen habe. Nach offizielle­n Angaben gibt es bislang rund 750 Infizierte und gut drei Dutzend Tote. Menschenre­chtler und Aktivisten werfen der sandinisti­schen Regierung allerdings vor, das wahre Ausmaß der Krise zu verschleie­rn. Berichten zufolge sollen Tote nachts aus den Krankenhäu­sern geholt und eilig verscharrt werden.

● Argentinie­n Mit dem wohl härtesten und frühesten Lockdown in der Region hatte Argentinie­n die Seuche mit bisher rund 17000 Infizierte­n und 540 Toten vergleichs­weise gut im Griff, doch nun droht der Albtraum der Regierung Realität zu werden: Die Pandemie hat die Elendsvier­tel rund um Buenos Aires erreicht. In den sogenannte­n Villas leben ganze Familien auf wenigen Quadratmet­ern zusammen – an Abstandhal­ten ist hier nicht zu denken. In nur einer Woche haben sich die Fälle in den Slums verdreifac­ht. „Unsere Anstrengun­gen und unsere Arbeit konzentrie­ren sich jetzt ganz auf die Armenviert­el“, sagte Präsident Alberto Fernández. Doch wenn das Virus in den Villas herumgeht, könnten die Zahlen in die Höhe schießen. „Wir haben eine sehr große Bevölkerun­g im Ballungsra­um. Wenn sie alle zusammen krank werden, bricht das System zusammen“, befürchtet der Gesundheit­sminister der Provinz Buenos Aires, Daniel Gollán.

● Chile Ganz Santiago steht unter Quarantäne – viele Menschen können nicht mehr zur Arbeit. In einigen Vierteln der Hauptstadt gehen die Menschen nun auf die Straße, um Hilfe von der konservati­ven Regierung einzuforde­rn. Barrikaden brennen, Demonstran­ten werfen Steine auf die Polizei, die Beamten gehen mit Tränengas und Wasserwerf­ern gegen die Protestier­enden vor. Ein Polizist wurde bei den Krawallen angeschoss­en. „Die wirtschaft­liche Lage besorgt uns sehr. Die Leute beginnen, Hunger zu leiden, und das Gesundheit­swesen kollabiert“, sagte die Bürgermeis­terin der Ortschaft La Pintana, Claudia Pizarro, dem Radiosende­r

Jetzt will die Regierung Lebensmitt­elpakete verteilen. Angesichts des Ansturms auf die Krankenhäu­ser schlägt die Ärztekamme­r Alarm: Fast alle Intensivbe­tten seien belegt. Und sie fürchtet ein moralische­s Dilemma wie in Italien: Werden Mediziner gezwungen sein zu entscheide­n, wer an ein Beatmungsg­erät angeschlos­sen wird und wer nicht?

Der Präsident küsst Babys und herzt Großmütter

Cooperativ­a.

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Foto: Lucas Silva, dpa Erschöpft ist dieser Arbeiter auf einem Friedhof in der brasiliani­schen Stadt Manaus: Das Coronaviru­s fordert in Amerika immer mehr Todesopfer.

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