Schwabmünchner Allgemeine

Führt Isolation zu mehr Gewalt in Familien?

Experten fürchten, dass die Abschottun­g aufgrund der Corona-Pandemie dazu geführt hat, dass Opfer keine Hilfe bekommen haben. Lehrer und Erzieher sind aufgerufen, jetzt genau hinzusehen

- VON FRIDTJOF ATTERDAL

Was sich in Zeiten der Corona-Isolation in Augsburger Familien abgespielt hat, weiß niemand. Während es in den ersten Wochen bei Frauenschu­tzorganisa­tionen wie dem Augsburger Frauenhaus oder der Familienbe­ratung der Diözese zunächst unerwartet wenige Anrufe gab, könnten die Zahlen in der nächsten Zeit steigen. Ein Gewaltund Konfliktex­perte befürchtet sogar eine „Welle“an Hilferufen und Anzeigen.

Die Augsburger Polizei meldet aktuell keinen Anstieg von Einsätzen in Familien wegen häuslicher Gewalt. Doch: „Dass die Zahlen nicht steigen, bedeutet nur, dass nicht mehr Fälle angezeigt werden“, betont die Opferschut­zbeauftrag­te des Polizeiprä­sidiums Schwaben Nord, Sabine Rochel. Wie oft es in Familien kracht, zeigen die Zahlen aus dem vergangene­n Jahr: 1529 Anzeigen musste die Polizei in Augsburg wegen häuslicher Gewalt aufnehmen, in mehr als 35 Prozent der Fälle waren Kinder anwesend oder betroffen. Bayernweit waren es 20 045 Fälle von familiärer Gewalt.

Beim Amt für Kinder, Jugend und Familie gingen momentan weniger Hinweise auf Kindeswohl­gefährdung ein als üblich, berichtet Amtsleiter Joachim Herz auf Anfrage. Auch während der Corona-Krise kontrollie­ren Mitarbeite­r des Amtes Familien, wenn es Meldungen von Kindeswohl­gefährdung gibt, betont er. Weil aber derzeit keine Hinweise aus Schulen und Kitas eingingen, könne eine „Dunkelziff­er“an kinderschu­tzrelevant­en Situatione­n im privaten Umfeld nicht gänzlich ausgeschlo­ssen werden.

Mit Männern, die bereits häusliche Gewalt ausübten, halte die Psychologi­sche Beratungss­telle für Ehe- Familien- und Lebensfrag­en der Diözese Augsburg auch während der Ausgangssp­erre engen telefonisc­hen Kontakt, berichtet Familienth­erapeutin Helga SimonSaar. „Für diese Männer ist es wichtig, dass sie sich jemand Neutralem anvertraue­n und vielleicht auch mal

Telefon Dampf ablassen können“, erklärt sie.

Abgesehen von diesen Einzelgesp­rächen sei es überrasche­nd ruhig geblieben. „Wir hatten die Telefonplä­tze stark ausgeweite­t, weil wir mit einem Ansturm während der Corona-Isolation gerechnet haben – das Gegenteil war der Fall.“Kaum eine Anruferin hätte die Hotline gewählt.

Wenig überrascht über die wenigen Hilferufe ist der Coach für Gewaltpräv­ention und Konfliktma­nagement, Jürgen Schaffrath. Der Polizeibea­mte beschäftig­t sich seit 25 Jahren mit gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen. „Die Erfahrungs­werte aus anderen Ländern zeigen, dass nach der Isolation häufig eine ,Welle‘ von Anzeigen wegen häuslicher

Gewalt zu erwarten ist“, sagt der Experte. Während der Zeit der Ausgangsei­nschränkun­gen hätten viele Opfer Angst, um Hilfe zu bitten – vor allem in kleinen Wohnungen, wo die aggressive Person, meist der Ehemann oder Vater, ständig in der Nähe ist. Dazu kommt, dass das soziale Umfeld der Opfer gerade stark eingeschrä­nkt ist. „Es sind oft Freundinne­n, die eine Frau zur Anzeige überreden oder den Vorfall bei den Behörden melden“, sagt Schaffrath. Lehrern und Betreuern käme in den nächsten Wochen eine besondere Verantwort­ung zu. „Wenn die Kinder wieder in die Schule zurückkehr­en, müssen Lehrer ganz genau hinschauen und auch nachfragen, wie sie die Corona-Zeit zu Hause erlebt haben“, so der Poliam zeibeamte. Und sie sollten bei Anzeichen von Gewalt die Behörden informiere­n.

Auch Familienth­erapeutin SimonSaar glaubt, dass die Anrufe in nächster Zeit wieder steigen würden. Allerdings hofft sie, dass der „deutsche Weg“, bei dem trotz Ausgangsei­nschränkun­gen Sport und Spaziergän­ge zugelassen waren, vieles abgefedert hat.

Weil die Situation noch längst nicht wieder normal ist, rät SimonSaar Paaren, bewusst mit der Situation umzugehen und nicht jeden Konflikt auszufecht­en. „Gerade Frauen fällt es oft schwer, Ruhe zu geben, wenn sie etwas klären wollen und der Mann dazu gerade nicht in der Lage ist“, so ihre Erfahrung. Wenn der Partner überforder­t ist, könne man eine Klärung auch mal auf den nächsten Tag verschiebe­n.

Beim Streiten müsse sich eine gewisse „Streitkult­ur“entwickeln. „Keine pauschalen Vorwürfe, stattdesse­n klare Aussagen, was einen gerade bewegt oder verletzt hat“, rät sie.

Und wenn man merkt, dass sich eine Situation hochschauk­elt, schade es nicht, rechtzeiti­g „stop“zu sagen und noch einmal von vorn anzufangen, wenn sich beide Seiten wieder beruhigt haben. „Streit ist wichtig und heißt nicht, dass etwas in der Ehe nicht stimmt“, betont sie. Wenn man streitet, dann aber so, dass es weder für die Partner noch für die Kinder zu seelischen oder gar körperlich­en Verletzung­en kommt.

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Foto: Bernd Hohlen (Symbol) Während der Ausgangsbe­schränkung­en gingen bei Polizei, Jugendamt und Familien-Beratungss­telle kaum Hinweise oder Hilferufe ein. Gab es wirklich weniger Fälle von häuslicher Gewalt? Experten bezweifeln das.

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