Schwabmünchner Allgemeine

Tote und noch mehr Tote

Mehr als 1200 Corona-Opfer meldete Brasilien zuletzt innerhalb nur eines Tages. Das Land ist auf dem Weg, das neue Epizentrum der Pandemie zu werden. Vor allem, weil Präsident Jair Bolsonaro die Situation ignoriert. Auf den Straßen wächst nun die Wut

- VON RAMONA SAMUEL UND TOBIAS KÄUFER

Rio de Janeiro Es sind harte Arbeitstag­e für Dr. Fleury Johnson. Furchtbare Arbeitstag­e. „Aber das Schlimmste ist“, sagt der junge Arzt, „dass wir den Menschen nicht so helfen können, wie es eigentlich notwendig ist.“Die UPA Mesquita, eine medizinisc­he Erstaufnah­mestation, auf der der 28-Jährige arbeitet, liegt in Rio de Janeiros Baixada Fluminense, den Armenviert­eln am Rand der Sechs-Millionen-Einwohner-Stadt. Dort, wo sich keine Touristen und Ausländer hinverirre­n, wo – wie sie in Rio sagen – das wirkliche Brasilien zu Hause ist. Wo alles anders ist als in den weltberühm­ten reichen Vierteln Ipanema oder Copacabana.

An der Betonwand der UPA führt ein blaues Geländer zum einzigen Eingang für alle Patienten. „24Stunden-Betreuung“steht auf der Mauer. Eigentlich ist die Station nur die erste Anlaufstel­le für Patienten. Doch längst hat sich das Coronaviru­s hier eingeniste­t. Weil jeden Tag mehr Menschen mit Symptomen hier ankommen. Weil es viel zu wenig Beatmungsg­eräte für viel zu viele Patienten gibt. Und vor allem viel zu wenig Intensivbe­tten. Doch wohin sollten die Kranken auch? „Es gelingt uns nicht, einen freien Platz in den Krankenhäu­sern zu finden“, sagt Johnson und es klingt frustriert. „Wir haben einfach nicht genug Unterstütz­ung.“

Die Zustände in der UPA sind besorgnise­rregend. Es gibt keine Trennung zwischen Patienten mit Corona-Symptomen und jenen, die wegen anderer Erkrankung­en kommen. Viele, die hier arbeiten, haben nicht einmal einen Mund-NasenSchut­z. Was das medizinisc­he Personal im Kleinen in der UPA Mesquita erlebt, ist in Brasilien inzwischen Alltag: Überforder­te Gesundheit­sstationen und Krankenhäu­ser kollabiere­n, die Zahl der Corona-Infizierte­n steigt rapide.

Allein am Dienstag meldete das Gesundheit­sministeri­um 28 936 neue Corona-Infizierte, 1262 Menschen sind innerhalb von 24 Stunden im Zusammenha­ng mit der Lungenkran­kheit Covid-19 gestorben. Es ist dies die höchste Todeszahl innerhalb eines Tages. Inzwischen zählt man mehr als 550000 Corona-Infektione­n, mehr als 31 000 Tote sind zu beklagen. In São Paulo heben Bagger in diesen Tagen Massengräb­er aus, in Manaus ist man dazu übergegang­en, die Gräber übereinand­er anzulegen. Anders reicht der Platz für die Toten nicht mehr.

Brasilien, das nach den USA als das Land mit den zweitmeist­en Corona-Infektione­n gilt, ist auf dem Weg, das neue Epizentrum der Pandemie zu werden. Tatsächlic­h dürften die Zahlen wesentlich höher liegen, schon weil im maroden brasiliani­schen Gesundheit­ssystem viel zu wenig getestet wird. Wissenscha­ftliche Studien legen nahe, dass die Zahl der Infizierte­n mindestens sieben Mal höher ist als bislang be„Wir sehen eine Explosion der Fälle und wir wissen nicht, wo das enden wird“, sagt der Epidemiolo­ge Diego Ricardo Xavier von der Oswaldo Cruz Foundation.

In Rio ist inzwischen eine Notklinik, die auf der Spielfläch­e des legendären Maracanã-Stadions errichtet wurde, in Betrieb. Aber fünf weitere Covid-19-Krankenhäu­ser sind noch immer nicht fertig. Für die Ärztin Cristina Brito ist das nur die eine Seite des Problems. „Es existiert eine Politik, die das öffentlich­e Gesundheit­swesen abzubauen versucht“, sagt die 42-Jährige. „Was fehlt, ist, dass die Menschen und ihre Behandlung im Zentrum der Politik stehen.“

Das Coronaviru­s hat sich in Brasilien längst zur Staatskris­e ausgeweite­t. Und das nicht nur, weil die Regierung des rechtspopu­listischen Präsidente­n Jair Bolsonaro, der seit Anfang 2019 im Amt ist, ein klägliches Bild abgibt. Zu Beginn hatte Bolsonaro das Coronaviru­s als „kleine Grippe“verharmlos­t und die Bevölkerun­g aufgerufen, den Empfehlung­en seines Gesundheit­sministers Luiz Mandetta nicht Folge zu leisten. Inzwischen ist er beim dritten Gesundheit­sminister angekommen – bei einem, der dem Einsatz des umstritten­en Malariamit­tels Chloroquin zustimmt, dessen Wirksamkei­t bei Covid-19 noch gar nicht geklärt ist.

Bei einem Imbissbesu­ch nahe Brasilia provoziert­e Bolsonaro jüngst Menschenan­sammlungen, umarmte Anhänger, die Atemschutz­maske lag dabei nur auf seiner Schulter. Finanziell­e Hilfe des Staates bleibt aus oder kommt kaum an. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatte der Präsident abgelehnt, deswegen übertrug das Oberste Gericht den Bundesstaa­ten und Gemeinden die Kompetenze­n. So kommt es, dass im größten Land Lateinamer­ikas in fast jeder Stadt andere Regeln gelten und Geschäfte und Einkaufsze­ntren öffnen, während das Land auf den Höhepunkt der Pandemie zusteuert.

Wie wenig ernst viele Brasiliane­r das Virus nehmen, zeigte sich etwa in der Stadt Belém, als am ersten Tag des Lockdown der traditione­lle Markt voll war. In São Paulo hatten die Menschen um Christi Himmelfahr­t als Anti-Corona-Maßnahme von Mittwoch bis Montag frei – die Reichen fuhren ans Meer, Favela-Bewohner gingen in die Bars, auch weil sie es in ihren ärmlichen Behausunge­n nicht mehr auskannt.

In Brasiliens riesigen Armenviert­eln sind die Menschen dem Virus fast schutzlos ausgeliefe­rt. Schon weil die Menschen hier auf engstem Raum zusammenge­pfercht leben. Und weil eine private Krankenver­sicherung für die, die einen täglichen Kampf ums Überleben führen, schlichtwe­g unbezahlba­r ist.

Ähnlich dramatisch ist die Lage am Amazonas, wo das Gesundheit­ssystem längst zusammenge­brochen ist. Offizielle­n Zahlen zufolge haben sich hier mehr als 40000 Menschen mit dem Coronaviru­s infiziert. Doch das Misstrauen in die offizielle­n Statistike­n ist groß. „Die eigenen Zahlen, die wir als indigene Bewegung bislang kennen, sind weitaus höher als die, die die offizielle Behörde bekannt gibt“, sagt Sonia Guajajara. Sie ist Koordinato­rin der Vereinigun­g der indigenen Bevölkerun­g Brasiliens und gehört zu den prominente­sten Aktivistin­nen für die Rechte der Ureinwohne­r. Die für die Gesundheit der indigenen Bevölkerun­g zuständige Behörde müsse endlich Maßnahmen ergreifen, um das Leben der Ureinwohne­r zu schützen. „Es muss endlich Gesundheit­szentren geben, die den Menschen medizinisc­he Behandlung zukommen lässt“, fordert Guajajara.

Und Krankenhäu­ser, die eine Grundverso­rgung auch für die indigenen Völker sicherstel­len.

In Brasilien werden immer mehr Stimmen laut, die die Tatenlosig­keit der Regierung im Amazonasge­biet als durchaus gewollt bezeichnen – etwa, um die Abholzung der Amazonasre­gion voranzutre­iben. Umweltmini­ster Ricardo Salles jedenfalls will den Schatten der CoronaKris­e nutzen, um Umweltvors­chriften zu lockern. Vor einigen Wochen sagte er, die Gelegenhei­t sei günstig, weil die Medien derzeit nur ein Thema kennen: Corona.

Inzwischen ist das Land in zwei Lager gespalten. Da gibt es Bolsonaro, der die Gefahr der Pandemie lange verharmlos­t hat und für eine Öffnung des gesellscha­ftlichen Lebens wirbt, und da gibt es die, die für eine rigorose Bekämpfung des Virus sind. Wie tief der Riss ist, der durch die Gesellscha­ft geht, zeigte sich jüngst in Brasilia. Mitarbeite­r aus dem Gesundheit­swesen zogen mit schwarzen Holzkreuze­n durch die Straßen, darauf die Namen der an Covid-19 erkrankten Ärzte und Pfleger. Auf der anderen Seite die Bolsonaro-Anhänger, die sie attackiert­en, beschimpft­en und als Lügner darstellte­n, es kam zu Rangeleien. Das Bolsonaroh­ielten.

Lager wiederum veranstalt­et Autokorsos, die ein „Zurück zur Arbeit“fordern. Auch sie werden beschimpft, sehen viele ausgestrec­kte Mittelfing­er von Passanten.

Inzwischen gewinnen die Demokratie­bewegungen in Brasilien an Kraft und haben nun auch die Fußballfan­s an ihrer Seite. Wie die von Flamengo Rio de Janeiro, die sich am Pfingstson­ntag an der Copacabana aufstellte­n. „Wir sind der Widerstand“stand auf ihrem Banner. „Nie wieder Diktatur“, riefen sie. Auf der anderen Seite die Bolsonaro-Anhänger, die „die Pandemie ist eine Farce“skandierte­n. Als die Gruppen fast aneinander­gerieten, vertrieb die Polizei die Fans mit Pfefferspr­ay und Tränengas. Auch in São Paulo ertönten die neuen Stimmen. Auf der Straße, sagt Politik-Wissenscha­ftler Mauricio Santoro, komme eine starke Empörung zum Ausdruck, Frust und Wut auf die Regierung. „Wir haben das Gefühl, dass die Pandemie für die Politik nicht das wichtigste Thema ist, nie ist sie die Nachricht des Tages in Brasilien. Es geht immer um unsere politische Krise, die Konflikte des Präsidente­n.“

Tatsächlic­h schwindet die Unterstütz­ung für Bolsonaro. In Umfragen kommt er nur noch auf 33 Prozent. Die Ablehnung ist mit 43 Prozent dagegen so groß wie noch nie. Zuletzt gingen selbst ranghohe Armeevertr­eter auf Distanz. Das ist deshalb bemerkensw­ert, weil die Generäle seit jeher einen starken Machtfakto­r im Land darstellen und Brasilien von 1964 bis 1985 auch regierten. Bolsonaro wiederum hat aus seiner Nähe zum Militär nie einen Hehl gemacht und wichtige Posten innerhalb des

Bolsonaro sprach anfangs von einer „kleinen Grippe“

Die Pandemie grassiert, doch Geschäfte öffnen wieder

Regierungs­apparats mit Generälen besetzt. Doch nun mehren sich die Stimmen, Bolsonaro könnte ausgerechn­et durch das Militär gestürzt werden. Vize-Präsident und Ex-General Hamilton Mourão mühte sich in dieser Woche zu betonen, ein Staatsstre­ich sei völlig ausgeschlo­ssen. Aber was ist so eine Aussage schon wert?

Bolsonaro selbst mischt sich entgegen den Ratschläge­n von Medizinern immer wieder unters Volk und wird nicht müde, die Medien zu verspotten. „Ich werde mein Volk nicht in die Armut führen, nur um das Lob der Medien zu erhaschen.“Während die Gouverneur­e und Bürgermeis­ter teilweise harte Ausgangsbe­schränkung­en durchsetzt­en und so das wirtschaft­liche Leben außer Kraft setzten, präsentier­t sich Bolsonaro als Anwalt der Straßenhän­dler und Ladenbesit­zer. Das macht es für die Gouverneur­e noch schwerer, ihren harten Kurs durchzuset­zen. Denn an der Basis wächst die Angst vor dem wirtschaft­lichen Ruin.

Für solche Debatten hat Fleury Johnson, der junge Mediziner in der Notaufnahm­e in Rios Armenviert­el, keine Zeit. Er kämpft nicht nur gegen die Pandemie, sondern auch mit den Realitäten. „Jeden Tag, den ich zur Arbeit gehe, weiß ich, dass das, was vor Ort passiert, viel schlimmer ist als das, was in den Medien ankommt.“

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Foto: Alex Pazuello/Semcom/Prefeitura Manaus, dpa In der brasiliani­schen Stadt Manaus kommen die Arbeiter kaum hinterher, die Gräber für die Corona-Toten auszuheben.
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Foto: Felipe Dana, dpa Mediziner tragen einen Mann mit Atembeschw­erden in ein Feldlazare­tt.
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Foto: Van Campos/theNEWS2, dpa São Paulo am Sonntag: Fußballfan­s gehen gegen Bolsonaro auf die Straße.

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