Schwabmünchner Allgemeine

Russland stellt das Virus ab

Trotz hoher Zahlen an Neuinfizie­rten gibt es Lockerunge­n. Für die Militärpar­ade wird schon geübt und für die Abstimmung zur Verfassung­sänderung werden alle Kräfte mobilisier­t

- VON INNA HARTWICH

Moskau Hellblau geht spazieren. Zusammen mit Gelb. Am Tag darauf folgt Dunkelblau. Die Moskauer Stadtverwa­ltung hat jedes Haus in Europas größter Stadt in sechs Farben eingeteilt und den Menschen in diesen Häusern an drei Tagen in der Woche Ausgang gewährt. „Spaziergän­ge nach Plan“, nennt sie das, nachdem die Moskauer coronabedi­ngt mehr als zwei Monate lang zu Hause bleiben mussten. Nur das Einkaufen, der Gang zur Apotheke und das Ausführen des Hundes – 100 Meter von der Wohnadress­e entfernt – waren erlaubt. Es sei ein zweiwöchig­es Experiment, erklärte der Moskauer Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin.

Dabei ist nicht nur der Aufenthalt draußen im Radius von zwei Kilometern von der Wohnung entfernt gestattet, sondern auch Frühsport in der Zeit von 5 bis 9 Uhr. Die Farbübung ist Teil von größeren Lockerunge­n in der Stadt. Shoppingma­lls haben wider geöffnet, bleiben aber weitgehend leer, chemische Reinigunge­n empfangen Kunden, in der bilden sich zur Rushhour wieder Staus. Moskau erwacht zum Leben, auch wenn die strikte „Selbstisol­ation“samt Passiersch­einen weiterhin gilt. Wie auch die Maskenund Handschuhp­flicht.

Nach offizielle­n Angaben sind in Russland mehr als 430000 Menschen an Covid-19 erkrankt. Täglich melden die Behörden etwa 9000 neue Infektions­fälle. Der Kreml bezeichnet das als „stabile Lage“und will den Eindruck vermitteln, alles im Griff zu haben. Mögen da auch Ärzte in der Nordkaukas­us-Republik Dagestan mit Hilferuf-Videos, in denen infizierte Krankensch­western in Regalen eines Abstellrau­ms liegen, auf die drohende medizinisc­he Katastroph­e in der Region aufmerksam machen. Mögen die Kranken in Zelten vor Krankenhäu­sern in Nowosibirs­k, der drittgrößt­en russischen Stadt, auf ihre Behandlung warten. Und mögen auch die Listen mit den Namen toter Mediziner, die mit Covid-19-Patienten zu tun hatten, Tag für Tag länger werden. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, selbst coronagene­sen, bezeichnet­e Nachrichte­n über tote Ärzte als

„Provokatio­n“. Alexander Mjasnikow, der Leiter des russischen Coronaviru­s-Monitoring-Informatio­nszentrums, sagte: „Wer sterben muss, wird sterben.“Folgen hat ein solcher Satz keine.

Das Gesundheit­sministeri­um rät dazu, symptomfre­ie Corona-Fälle gar nicht erst in die Statistik einfließen zu lassen. Während die Moskauer Stadtverwa­ltung auf allen Kanälen darauf verweist, die Selbstisol­ation gelte bis mindestens Mitte Juni, findet ab Samstag gleichwohl ein Bücherfest auf dem Roten Platz statt. Man könne ja einen Passiersch­ein dafür beantragen, heißt es in der Ankündigun­g. Widersprüc­hliche Aussagen sind die Begleiter der Corona-Krise. Im Land vertraut niemand niemandem, weder der Staat seinem Volk noch das Volk dem Staat. Auch untereinan­der vertrauen sich die Menschen nicht. Zynismus hat sich breitgemac­ht.

Die Krise offenbart, wie dysfunkSta­dt tional das System Putin ist. Der Präsident selbst vermittelt­e erst Zurückhalt­ung, mittlerwei­le pflegt er eine gelangweil­te Haltung. Das Virus hatte die politische­n Pläne im Land durcheinan­dergewirbe­lt: Mit einer für viele verstörend­en Verbissenh­eit sollen die Hauptereig­nisse nun nachgeholt werden: Die Militärpar­ade zum Ende des Zweiten Weltkriege­s findet anstatt am 9. Mai nun am 24. Juni statt. Die Soldaten üben bereits in Masken. Auch die Abstimmung über die Verfassung­sänderung – im April ebenfalls verschoben – findet am 1. Juli statt. Der Machterhal­t geht über alles.

Der Kreml ist ungeduldig und beruhigt die Bevölkerun­g damit, dass genug Betten zur Behandlung von Covid-19 vorhanden seien. Die Zustimmung­swerte für Putin sind in Umfragen so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Parade und die Abstimmung sollen das Gefühl von Geschlosse­nheit hervorrufe­n. Doch sie könnten das genaue Gegenteil bewirken. Viele Russen erwarten inzwischen mehr wirtschaft­liche Hilfen vom Staat, keine patriotisc­he Inszenieru­ng von Stärke.

Niemand vertraut niemandem mehr

 ?? Foto: Pavel Golovkin, dpa ?? Die Idylle trügt: Der Wachmann vor einem künstliche­n Baum im wiedereröf­fneten Moskauer Kaufhaus GUM hat wenig zu tun, denn trotz der Lockerunge­n kommen fast keine Kunden. Viele Widersprüc­he kennzeichn­en derzeit die politische Lage und das Leben in Russland.
Foto: Pavel Golovkin, dpa Die Idylle trügt: Der Wachmann vor einem künstliche­n Baum im wiedereröf­fneten Moskauer Kaufhaus GUM hat wenig zu tun, denn trotz der Lockerunge­n kommen fast keine Kunden. Viele Widersprüc­he kennzeichn­en derzeit die politische Lage und das Leben in Russland.

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