Schwabmünchner Allgemeine

Auf den Spuren der Industrieg­eschichte in Pfersee

In den Fabriken des Stadtteils verdienten sich einst Tausende von Arbeitern ihren Lohn. Vor allem die Textilbran­che war stark vertreten. Bernhard Kammerer kennt aber nicht nur ihre Entwicklun­g, sondern auch viele spannende Details / Serie (2)

- VON ANDREA BAUMANN

Die einen mögen sich durch das Coronaviru­s in ihrer Bewegungsf­reiheit eingeschrä­nkt fühlen. Andere wiederum haben Freude daran, ihre Stadt (neu) zu entdecken. Ein attraktive­s Ausflugzie­l ist der Stadtteil Pfersee, wo Besucher durch das Neubaugebi­et Sheridan und seinen üppigen Park schlendern, die Geschäfte in der Augsburger Straße entdecken, in der Jugendstil­kirche Herz Jesu innehalten und ihren Aufenthalt in einem Café oder Restaurant krönen können.

Ein Abstecher nach Pfersee lohnt sich aber auch für geschichtl­ich Interessie­rte. Seit vielen Jahren bringt ihnen der Ur-Pferseer Bernhard Kammerer in verschiede­nen Führungen – auch zusammen mit der Volkshochs­chule – seinen Stadtteil näher. „Wer sich mit Geschichte befasst, sollte mit seiner Heimat beginnen. Denn hier finden sich viele Aspekte der europäisch­en oder gar Weltgeschi­chte“, sagt das Vor

der

Pfersee Schlössle.

Im Mittelpunk­t des Rundgangs, den der 68-jährige Sozialpäda­goge für unsere Leser ausgewählt hat, steht die Industrial­isierung Pfersees. Sie ließ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts die Einwohnerz­ahl des einstigen Dorfes explodiere­n und führte 1911 zur Eingemeind­ung der bis dahin selbststän­digen Gemeinde nach Augsburg. Dieser Schritt erfolgte nicht freiwillig, sondern gezwungene­rmaßen. Pfersee wäre aus eigener Kraft nicht in der Lage gewesen, die nötige Infrastruk­tur zu schaffen. „Die Industrial­isierung hat das Dorf ökologisch und sozial ruiniert“, sagt Kammerer.

Als Startpunkt für seine rund drei Kilometer lange Tour empfiehlt er das Kaufhaus Konrad in der Augsburger Straße oder die weit über den Stadtteil bekannte Jugendstil­kirche Herz Jesu. Von dort aus gelangt man über die Franz-Kobinger-Straße rasch in den Pfersee Park (siehe Grafik, Punkt Heute beherbergt das Ensemble vor allem Büros, Praxen, Geschäfte und Restaurant­s. Fast 100 Jahre – von 1888 bis 1985 – war auf dem Areal die Chemische Fabrik Pfersee der Familie Bernheim beheimatet. Während das Nachfolgeu­nternehmen heute in Langweid firmiert, wurden die Gebäude der „Chemischen“für ihren neuen Bestimmung­szweck umfunktion­iert.

Nicht überall sind die Spuren der industriel­len Vergangenh­eit noch so gut sichtbar. Entlang des renaturier­ten Mühlbachs etwa ist vor rund 20 Jahren ein Neubauquar­tier entstanden – das sogenannte Mühlbach

Bürgerakti­on viertel Bernhard Kammerer zählte damals zu den Pferseern, die mit einem Bürgerbege­hren eine dichtere Bebauung verhindert­en und für mehr Grün kämpften. An die einst gigantisch­e Spinnerei Weberei Pfersee (SWP) erinnern nur noch eine Pförtnerlo­ge und ein Turbinenhä­uschen.

Kammerer holt einen Ordner hervor und zeigt Fotos von dem 1866 gegründete­n Unternehme­n, das zu seinen Hochzeiten rund 1500 Beschäftig­te zählte und 1992 die Produktion einstellte. Dass die SWP-Arbeiter 1869 streikten, verwundert nicht: „Sie mussten damals 78 Stunden in der Woche, verteilt auf sechs Tage, arbeiten“, sagt der Stadtteil-Kenner.

Auch der anderen Seite der Augsburger Straße gingen die Arbeiter gut 30 Jahre später wegen Niedriglöh­nen auf die Straße. Wo einst Raff und Söhne Trikotware­n hergestell­t und später unter dem Namen Aura Textilien bedruckt hat, steht heute zwischen Ohnsorg- und Hessenbach­straße die Wohnanlage Wertachpar­k

Ganz in der Nähe ist eine weitere große Wohnanlage im Beton-Stil, das Bemberg-Center entstanden. An seiner Stelle befand sich bis 1970 ein weiteres bedeutende­s Textilunte­rnehmen – Bemberg. Es machte sich mit Kunstseide einen Namen, die es, so Kammerer, „aus allen möglichen Kräutern herstellte“. Mit dem Abriss habe die Deindustri­alisierung von Pfersee begonnen, ziemlich genau 100 Jahre nach dem Beginn der Industrial­isierung. Auch das Bemberg-Werk 2 in der Hessenbach­straße ist Vergangenh­eit. Kammerer bedauert sehr, dass dieses Firmengebä­ude im Bauhaussti­l vor rund 20 Jahren dem Erdboden gleich gemacht wurde.

Eine Ausnahme bildet da die Firstandsm­itglied ma Eberle an der gleichnami­gen Straße. Das Backsteing­ebäude, in dem noch heute Metallband­sägen hergestell­t werden, stammt von Jean Keller und wurde 1910 errichtet. Der Architekt schuf zahlreiche Gebäude in Augsburg, neben Fabriken auch das Kurhaus in Göggingen.

Kammerer wechselt bei seinem Rundgang aber nicht den Stadtteil, sondern nur die Straßensei­te, wo die Firma Dierig seit gut 100 Jahren residiert. Die Textilien – vor allem Bettwäsche – werden nicht mehr vor Ort produziert. Die Firma ist noch präsent und hat sich mit Immobilien ein weiteres wichtiges Standbein geschaffen. Zahlreiche Mieter – vom Fitnessstu­dio bis zur Werkstatt – sind in den Gebäuden der Textilfabr­ik untergekom­men. Doch auch auf dem Dierig-Areal sind Neubauwohn­ungen entstanden und noch geplant. Kammerer hätte sich auf dem Gelände auch das Textilmuse­um gut vorstellen können. „Schade, dass Pfersee es nicht bekommen hat.“

Nach gut zwei Stunden Spaziergan­g geht es wieder zur Augsburger Straße zurück. Immer wieder hat Kammerer Geschichte­n und Anekdoten zu den Häusern parat. Es macht aber auch Freude, auf eigene Faust die Architektu­rstile der unterschie­dlichen Epochen zu erkunden – und den Ausflug mit einem Abstecher in einem Restaurant oder Café zu krönen.

Auch wenn Pfersee noch heute gastronomi­sch gut aufgestell­t ist, gab es früher im Stadtteil viel mehr Wirtshäuse­r, weiß Kammerer. Oft konnten sich die Arbeiter mit ihren kargen Löhnen eine Einkehr freilich nicht leisten.

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Fotos: Ulrich Wagner Einst und Jetzt: Bernhard Kammerer steht im Neubaugebi­et Mühlbachvi­ertel, wo sich einst die Spinnerei Weberei Pfersee befand.
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Die Kirche Herz Jesu bietet sich als Startpunkt an.
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