Gustave Flaubert: Frau Bovary (88)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Der Wagen machte kehrt und fuhr nun, auf dem Ring angelangt, in gemächlichem Trabe zwischen den alten Ulmen hin. Der Kutscher trocknete sich den Schweiß von der Stirn, nahm seinen Lederhut zwischen die Beine und lenkte sein Gefährt durch eine Seitenallee dem Seine-Ufer zu, bis an die Wiesen. Dann fuhr er den Schifferweg hin, am Strom entlang, über schlechtes Pflaster, nach Oyssel zu, über die Inseln hinaus.
Auf einmal fuhr er wieder flotter, durch Quatremares, Sotteville, die große Chaussee hin, durch die Elbeuferstraße und machte zum drittenmal Halt vor dem Botanischen Garten.
„So fahren Sie doch weiter!“rief die Stimme, diesmal wütend. Alsobald nahm der Wagen seine Fahrt wieder auf, fuhr durch Sankt Sever über das Bleicher-Ufer und Mühlstein-Ufer, wiederum über die Brücke, über den Exerzierplatz, hinten um den Spitalgarten herum, wo Greise in schwarzen Kitteln auf der von Schlingpflanzen überwachsenen Terrasse in der Sonne spazieren gingen. Dann führte die Fahrt zum Boulevard Bouvreuil hinauf, nach dem Causer Boulevard und dann den ganzen Riboudet-Berg hinan bis zur Deviller Höhe.
Wiederum ward kehrt gemacht, und nun begann eine Kreuz- und Querfahrt ohne Ziel und Plan durch die Straßen und Gassen, über die Plätze und Märkte, an den Kirchen und öffentlichen Gebäuden und am Hauptfriedhof vorüber.
Hin und wieder warf der Kutscher einen verzweifelten Blick vom Bock herab nach den Kneipen. Er begriff nicht, welche Bewegungswut in seinen Fahrgästen steckte, so daß sie nirgends Halt machen wollten. Er versuchte es ein paarmal, aber jedesmal erhob sich hinter ihm ein zorniger Ruf. Von neuem trieb er seine warmgewordenen Pferde an und fuhr wieder weiter, unbekümmert, ob er hier und dort anrannte, ganz außer Fassung und dem Weinen nahe vor Durst, Erschlaffung und Traurigkeit. Am Hafen, zwischen den Karren und Fässern, in den Strassen und an den Ecken machten die Bürger große Augen ob dieses in der Provinz ungewohnten Anblicks: ein Wagen mir herabgelassenen Vorhängen, der immer wieder auftauchte, bald da, bald dort, immer verschlossen wie ein Grab.
Einmal nur, im Freien, um die Mittagsstunde, als die Sonne am heißesten auf die alten versilberten Laternen brannte, langte eine bloße Hand unter den gelben Fenstervorhang heraus und streute eine Menge Papierschnitzel hinaus, die im Winde flatterten wie weiße Schmetterlinge und auf ein Kleefeld niederfielen.
Gegen sechs Uhr abends hielt die Droschke in einem Gäßchen der Vorstadt Beauvoisine. Eine dichtverschleierte Dame stieg heraus und ging, ohne sich umzusehen, weiter. gen.
Zweites Kapitel
Wieder im Gasthofe, war Frau Bovary sehr erstaunt, die Post nicht mehr vorzufinden. Hivert hatte dreiundfünfzig Minuten auf Emma gewartet, schließlich aber war er abgefahren.
Es war zwar nicht unbedingt erforderlich, daß sie wieder zu Hause sein mußte. Aber sie hatte versprochen, an diesem Abend zurückzukehren. Karl erwartete sie also, und so fühlte sie jene feige Untertänigkeit im Herzen, die für viele Frauen die Strafe und zugleich der Preis für den Ehebruch ist.
Sie packte schnell ihren Koffer, bezahlte die Rechnung und nahm einen der zweirädrigen Wagen, die im Hofe bereitstanden. Unterwegs trieb sie den Kutscher zu größter Eile an, fragte aller Augenblicke nach der Zeit und nach der zurückgelegten Kilometerzahl und holte die Post endlich bei den ersten Häusern von Quincampoix ein.
Kaum saß sie drin, so schloß sie auch schon die Augen. Als sie erwachte, waren sie schon über den Berg, und von weitem sah sie Felicie, die vor dem Hause des Schmiedes auf sie wartete. Hivert hielt seine Pferde an, und das Mädchen, das sich bis zum Fenster hinaufreckte, flüsterte ihr geheimnisvoll zu:
„Gnädige Frau sollen gleich mal zu Herrn Apotheker kommen! Es handelt sich um etwas sehr Dringliches!“
Das Dorf war still wie immer. Vor den Häusern lagen kleine dampfende, rosafarbige Haufen. Es war die Zeit des Früchteeinmachens, und jedermann in Yonville bereitete sich am selben Tag seinen Vorrat. Vor der Apotheke bewunderte man einen besonders großen Haufen dieser ausgekochten Überreste. Man sah, daß hier mit für die Allgemeinheit gesorgt wurde. Emma trat in die Apotheke. Der große Lehnstuhl war umgeworfen, und sogar der „Leuchtturm von Rouen“lag am Boden zwischen zwei Mörserkeulen. Sie stieß die Tür zur Flur auf und erblickte in der Küche – inmitten von großen braunen Einmachetöpfen voll abgebeerter Johannisbeeren und Schüsseln mit geriebenem und zerstückeltem Zucker, zwischen Wagen auf dem Tisch und Kesseln über dem Feuer – die ganze Familie Homais, groß und klein, alle in Schürzen, die bis zum Kinn gingen, Gabeln in den Händen. Der Apotheker fuchtelte vor Justin herum, der gesenkten Kopfes dastand, und schrie ihn eben an:
„Wer hat dir geheißen, was aus dem Kapernaum zu holen?“
„Was ist denn los? Was gibts?“fragte die Eintretende.
„Was los ist?“antwortete der Apotheker. „Ich mache hier Johannisbeeren ein. Sie fangen an zu sieden, aber weil der Saft zu dick ist, droht er mir überzukochen. Ich schicke nach einem andern Kessel. Da geht dieser Mensch aus Bequemlichkeit, aus Faulheit hin und nimmt aus meinem Laboratorium den dort an einem Nagel aufgehängten Schlüssel zu meinem Kapernaum!“
Kapernaum nannte er nämlich eine Bodenkammer, in der er allerlei Apparate und Material zu seinen Mixturen aufbewahrte. Oft hantierte er da drinnen stundenlang ganz allein, mischte, klebte und packte. Dieses kleine Gemach betrachtete er nicht als einen gewöhnlichen Vorratsraum, sondern als ein wahres Heiligtum, aus dem, von seiner Hand hergestellt, alle die verschiedenen Sorten von Pillen, Pasten, Säften, Salben und Arzneien hervorgingen, die ihn in der ganzen Gegend berühmt machten. Niemand durfte das Kapernaum betreten. Das ging soweit, daß er es selbst ausfegte. Die Apotheke stand für jedermann offen. Sie war die Stätte, wo er würdevoll amtierte. Aber das Kapernaum war der Zufluchtsort, wo sich Homais selbst gehörte, wo er sich seinen Liebhabereien und Experimenten hingab. Justins Leichtsinn dünkte ihn deshalb eine unerhörte Respektlosigkeit, und röter als seine Johannisbeeren, wetterte er:
„Natürlich! Ausgerechnet in mein Kapernaum! Sich einfach den Schlüssel nehmen zu meinen Chemikalien! Und gar meinen Reservekessel, den ich selber vielleicht niemals in Gebrauch genommen hätte! Meinen Deckelkessel! In unsrer peniblen Kunst hat auch der geringste Umstand die größte Wichtigkeit!