Schwabmünchner Allgemeine

Der Risikokurs der Briten

Täglich infizieren sich in Großbritan­nien 11 000 Menschen neu mit dem Coronaviru­s. Gleichzeit­ig pulsiert das Leben wieder. Führt das zu einer zweiten Krankheits­welle?

- VON KATRIN PRIBYL

London Seit dem Ausbruch der Coronaviru­s-Krise im Vereinigte­n Königreich hat die britische Regierung stets darauf verwiesen, basierend auf den Empfehlung­en der Wissenscha­ftler zu handeln. Diese Versicheru­ng hörte das Volk auch ständig auf der Pressekonf­erenz aus der Downing Street, mit der seit Ausbruch der Pandemie auf der Insel täglich ein Regierungs­vertreter über den aktuellen Stand informiert. Bis jetzt.

Dieser Tage wird in jenem holzgetäfe­lten Raum vor allem über die Fortschrit­te gesprochen und man lobt die neuen Lockerunge­n der Kontaktbes­chränkunge­n. Nur hört man den Hinweis auf die Wissenscha­ft kaum noch – und das aus gutem Grund. Denn selbst Berater aus dem regierungs­eigenen Krisenstab distanzier­en sich von Premiermin­ister Boris Johnsons Kurs, der mehr „politische­n Entscheidu­ngen“als wissenscha­ftlichen Ratschläge­n folgt, so die Kritik. Rund zwei Millionen Schüler in England durften diese Woche wieder in die Klassenräu­me zurückkehr­en, ältere Kinder sollen das ab Mitte Juni dürfen. Daneben ist es gestattet, dass sich bis zu sechs Menschen im Freien treffen. Bislang war das nur möglich für zwei Personen unterschie­dlicher Haushalte. Autohäuser, einige Geschäfte und Märkte öffneten ebenfalls wieder ihre Türen.

Dabei sind die Fallzahlen im internatio­nalen Vergleich noch immer sehr hoch, betont Professor John Edmunds, Londoner Experte für die Berechnung der Ausbreitun­g von Infektions­krankheite­n. Er steht keineswegs allein mit seiner Warnung da.

So infizieren sich nach Schätzunge­n der nationalen Statistikb­ehörde ONS noch immer rund 8000 Menschen täglich allein in England mit dem Virus; das Londoner King’s College geht von etwa 11 000 Neuinfekti­onen pro Tag im gesamten Königreich aus. „Im Grunde heben wir den Deckel eines kochenden Kessels und es wird einfach überkochen“, sagte Professor Calum Semple, wie Edmunds ebenfalls Mitglied im wissenscha­ftlichen Gremium der Regierung. „Covid-19 breitet sich zu schnell aus, um den Lockdown in England aufzuheben“, befand auch der Infektions­mediziner und Direktor des Wellcome Trust, Jeremy Farrar. Zuerst müssen ein System mit Tests und Kontaktver­folgungen funktionie­ren und die Infektions­zahlen geringer sein.

Johnson dagegen verspricht in gewohnter Manier bereits ein „Weltklasse-System“, doch laut Insidern kommt es nur schleppend in Fahrt. Der Premier aber steht unter massivem Druck. Und dieser kommt keineswegs nur aus der Bevölkerun­g. Auch in den eigenen konservati­ven Reihen tobt der Widerstand, nachdem sein engster Berater Dominic Cummings mehrere Lockdown-Regelungen gebrochen, sich aber nicht entschuldi­gt hat. Der Regierungs­chef hielt ungeachtet aller Kritik an seinem umstritten­en Chefstrate­gen, der maßgeblich für den Erfolg des Brexit-Votums mitverantw­ortlich gemacht wird, fest. Nun sorgt das Ende des strikten Lockdowns für Ablenkung. „Wie gefährlich sind die Lockerunge­n?“, fragt sich das Land.

Abgeordnet­e der Opposition von Labour nannten sie „rücksichts­los“. Für Boris Johnson sei dies nicht länger vorwiegend eine Gesundheit­s-, sondern eine wirtschaft­liche Krise, schrieb ein Kommentato­r der

Financial Times. So warnte Schatzkanz­ler Rishi Sunak etwa seine Kollegen, dass die Arbeitslos­enquote die Zehn-Prozent-Marke erreichen könnte. Die bisherigen und für Mitte Juni geplanten weiteren Lockerunge­n der Kontaktbes­chränkunge­n seien deshalb vor allem der Rettung von straucheln­den Unternehme­n, dem Freizeitse­ktor und anderen Branchen geschuldet, die besonders unter den derzeitige­n Maßnahmen leiden.

Steht dem Königreich wegen der verhältnis­mäßig frühen Aufhebung der Maßnahmen eine zweite Welle bevor? Oder hält die erste Welle schlichtwe­g weiter an? Die Sorge, noch einmal die Kontrolle über das Virus zu verlieren, scheint groß unter den Wissenscha­ftlern. Johnson, dem ein zögerliche­s Krisenmana­gement zu Beginn der Pandemie vorgeworfe­n wird, muss derweil auf eine bislang düstere Bilanz der Pandemie blicken. Rund 40 000 mit dem Coronaviru­s infizierte Menschen sind Regierungs­angaben zufolge bis jetzt gestorben. Das Königreich gehört damit zu den am schwersten betroffene­n Ländern der Welt.

 ?? Foto: Lipinski/PA Wire/dpa ?? Radfahrer genießen vor dem Buckingham Palace in London das sommerlich­e Wetter. Sechs Menschen dürfen sich im Freien wieder treffen.
Foto: Lipinski/PA Wire/dpa Radfahrer genießen vor dem Buckingham Palace in London das sommerlich­e Wetter. Sechs Menschen dürfen sich im Freien wieder treffen.

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