Sex und Krieg und der Islam
Kamel Daoud denkt Picassos Akten nach
Was für ein kühnes, kluges Buch. Allein auf die Idee muss man erst mal kommen. Aber Kamel Daoud, eine der wichtigsten Stimmen der liberalen arabischen Welt, hat mit „Der Fall Mersault“ja auch schon eine Gegendarstellung zu Camus’ „Der Fremde“gewagt und bis in die Bestsellerränge hinein gewonnen. Nun also lässt er sich für eine Nacht ins Picasso-Museum einschließen, um dort mit all den Akten des Meistermalers allein zu sein und über die Wirkung der Nacktheit und des Sex, über Tabus in Religionen und Kulturen nachzudenken.
Das birgt zu Beginn, bei der Anreise, bereits die Chance zu einem wichtigen Perspektivwechsel, wenn der Araber auf die völlig ungewohnte und überfordernde Allgegenwart der offenen körperlichen Reize im Stadtbild trifft – und zugleich auf ihm restlos verschlossene Blicke der Menschen. Daoud versteht es auch, durch einen erdachten, muslimischen Begleiter die fatale Dialektik einer fanatisch islamischen Perspektive auf Kultur und Körper zu entwickeln: „Das Streben nach Reinheit schlägt um in Eroberung, Inquisition und Massaker.“Und der 50-jährige Algerier beherrscht auch noch den verständig gewitzten Blick auf die Kunst, die ihn dort umgibt und anschlussfähig ist. Darüber bleibt ihm Courbets Gemälde vom „Ursprung der Welt“, das direkt zwischen nackte weibliche Schenkel blickt, eine Sensation: „Hier ist die Frau Imam. Mit Macht.“
(ws)