Schwabmünchner Allgemeine

Wie TikTok den Pop verändert

Mit der chinesisch­en App werden Fans durch eigene Videos zum Teil der Geschichte eines Songs. Mittlerwei­le kooperiert auch die Popakademi­e Mannheim mit der Plattform

- VON SEBASTIAN KRAUS

Vor fast 15 Jahren haben die HipHop-Opas der Beastie Boys ein Konzert im New Yorker Madison Square Garden unter einem Titel veröffentl­icht, der sich grob mit „Krass! Das habe ich verdammt noch mal gefilmt!“übersetzen ließe. 50 Fans wurde eine HI8-Kamera in die Hand gedrückt, um aus der Zuschauerp­erspektive das Geschehen zu filmen. Heraus kam ein authentisc­h-verwackelt­er Konzertfil­m, der, wie Rapper Mike D damals dem britischen Guardian erzählte, die Einheit von Fans und Band abbilden sollte. Damals in dieser Größenordn­ung ein Einzelfall, heute ein gängiges Element der Popkultur.

Verantwort­lich dafür ist eine kleine App aus China, verfügbar seit August 2018. Die App hört auf den Namen TikTok und funktionie­rt im Prinzip so: Fans nehmen im Rahmen einer sogenannte­n Challenge zu einem kurzen, 15-sekündigen Ausschnitt eines Songs kleine Tanzoder Lippensync­hronisatio­nsvideos auf und laden sie samt passendem Hashtag auf die Plattform hoch. „So ist es ganz einfach, mit dem Lieblingsk­ünstler in Kontakt zu treten, die Künstler wiederum nehmen den Faninput in ihre Videos – so wird der Fan zum Teil der Geschichte des Songs“, bringt David Stammer, Projektman­ager für digitale Innovation an der Popakademi­e Mannheim, die Faszinatio­n der Plattform auf den Punkt.

Diese Faszinatio­n lässt sich in nackten Zahlen gut nachvollzi­ehen, denn schneller wuchsen nur wenige mobile Apps. In gut zwei Jahren explodiert­e die Nutzerzahl auf stolze 800 Millionen Menschen, drei Viertel davon sind laut des Marketingb­logs futurebiz jünger als 24 Jahre. Ein Riesenmark­t, den sich keiner entgehen lassen möchte. Auch die Hamburger Kirmestech­no-Helden Scooter nicht.

Als deren erste Single in den Clubs lief, war der Löwenantei­l der TikTok-Nutzer noch nicht einmal geplant. Letztes Jahr kooperiert­e die Band mit TikTok-Star Falco Punch, um ihre Single „God Save The Rave“zu promoten. Manager Jens Thele zufolge wollte die Band „nicht mit ihrer Zielgruppe altern. Außerdem hat Falco Punch eine enorme Reichweite, bis nach Indien und Pakistan.“Selbst nach drei Jahrzehnte­n im Geschäft eröffnen sich da noch einmal ganz neue Möglichkei­ten – und Märkte. Allerdings ist es schwierig, den Erfolg der Kampagne zu messen, erzählt Thele. „Der Vertrieb früher war messbarer, in Plattenver­käufen oder Downloadza­hlen, bei TikTok ist das nicht erkennbar.“

David Stammer sieht das ähnlich. „Auf TikTok explodiere­n Dinge, und man weiß nicht genau warum. Es gibt noch keine etablierte­n Mechanisme­n“– einer der vielen Gründe, warum die Popakademi­e in diesem Semester mit der Plattform kooperiert, um zusammen in einem Projekt herauszufi­nden, wie Nischenmus­ik, in diesem Falle Schlager, auf TikTok funktionie­ren können. Nun wird sich mancher mit Blick auf die zwei Regalmeter Amigos-CD im Schrank des Onkels fragen, wie Schlager eine Nische sein kann. Nun, auf TikTok ist er das zweifelsoh­ne.

Mit Hip-Hop hingegen kann man nichts falsch machen, wie der Erfolg des Popakademi­e-Eigengewäc­hses Stroppo zeigt. Ein Wackelvide­o mit Tieraufnah­men, simple Textzeilen voller TikTok-Humor und aktuellen Hip-Hop-Referenzen, Autotune auf der Stimme und Trap-Basslines als Basis. Die Plattform beeinfluss­t den Klang ihrer Hits. TikTok wird auf dem Smartphone konsumiert, also wird der Sound auf die Ansprüche der mikroskopi­sch kleinen Handylauts­prechern zugeschnit­ten. Mit satten Subbässen, die mehr gefühlt als gehört werden, braucht man also gar nicht anzufangen. Man besinnt sich zurück auf den analogen Roland 808-Drumcomput­er, der schon auf den späten Marvin GayeHits zu hören war.

Stammer hat beobachtet, dass „beim Produktion­sprozess gleich die 15-Sekunden-Ausschnitt­e mitgedacht werden, mit Tanzanweis­ungen und catchy Sounds. Das kann dann, wie im Falle von Drake, schon fast anbiedernd wirken.“Der kanadische R&B-Sänger hat zwar Erfolg bei der jungen Zielgruppe, Newcomer haben es trotzdem deutlich leichter auf TikTok.

Im Zusammenha­ng mit der Zielgruppe setzt der Mannheimer – neben dem undurchsic­htigen Datenschut­z auf der Plattform – den schwerwieg­endsten Kritikpunk­t an. „TikTok macht die Sache unheimlich einfach, Videos hochzulade­n. Da passiert es dann, dass junge Nutzer vielleicht zu viel von sich zeigen.“Auch wenn ernst zu nehmende Künstler kein Material von zu jungen Fans verwenden würden, wie Stammer ergänzt, die Hemmschwel­le liegt doch niedrig. Und das Internet vergisst eben nichts. Vergessen sollte man genau das bei aller Begeisteru­ng nicht.

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Symbolfoto: dpa Etwa 800 Millionen Menschen nutzen TikTok, eine Plattform auf der eigene Videos hochgelade­n werden.

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