Adams Ex im Garten Eden
Ohne die fruchteinflößende Lilith sind Sumerer, Assyrer, Juden, selbst die heutige Popkultur nicht denkbar
Als Dämonin geistert sie durch die Überlieferungen der Religionen, bedroht vor allem Schwangere und Neugeborene, besucht Männer im Schlaf, um sich zu vermehren. Annett Martini vom Institut für Judaistik und derzeit Gastprofessorin für jüdische Studien am Mittelalterlehrstuhl der Augsburger Historiker, legte in ihrem ersten öffentlichen Online-Vortrag die religiösen und mystischen Legenden frei, die über 5000 Jahre lang auf dieses geflügelte Frauenwesen projiziert wurden. Der Vortrag wurde auf Einladung des Jüdischen Museums in der Synagoge Kriegshaber aufgezeichnet und kann auf der Webseite des Museums nachgehört werden. Er stimmt auf die Ausstellung „Shalom Sisters“ein, die am 13. Januar im Jüdischen Museum eröffnet wird.
Schriftlich fixiert ist Lilith erstmals im Gilgamesch-Epos, etwa 2500 vor Christus. Ein vor hundert Jahren in Mesopotamien gefundenes Terracotta-Relief aus jener Zeit zeigt sie als göttliches Wesen mit langem Haar, Flügeln und Vogelfüßen. In den altorientalischen Vorstellungswelten gehört sie zur Klasse vampirartiger, flugfähiger Dämonen, und entwendet nachts den Samen der Männer für ihre Nachkommenschaft. So mäandert sie durch die Jahrtausende. Aramäische Zaubertexte, gefunden auf Schalen aus dem 6. Jahrhundert, sollten vor allem Häuser, Boden und Türschwellen vor ihr schützen.
Im Mittelalter krönten jüdische Kabbala-Mystiker Lilith zur Königin eines bösen Gegenuniversums und machten ihr Treiben gar verantwortlich für die gestörte Gottesbeziehung und die bedrohte Existenz des Volkes Israel in der europäischen Diaspora. Im „Alphabet des Ben Jera“, einem Volksbuch, entstanden zwischen dem achten bis zehnten Jahrhundert, erscheint sie erstmals namentlich als Frau Adams. Demnach, so zitiert Martini, habe Gott den Menschen erschaffen und gleich danach – ebenfalls aus Erde – eine Frau, Lilith. Die beiden „verstanden einander nicht“, Lilith floh verärgert aus dem Paradies.
Für das Alte Testament verbanden die mittelalterlichen jüdischen Gelehrten zwei widersprüchliche Versionen der Schöpfungsgeschichte, indem sie auf Lilith zurückgriffen. Während Genesis eins beschreibt, wie Mann und Frau gleichzeitig aus Staub erschaffen wurden, erklärt das zweite Buch Genesis, Adam sei zuerst entstanden, Eva hingegen erst nach ihm und den
Tieren. Die Gelehrten verbanden beide Versionen miteinander. „Sie führten Lilith ein und lieferten mit ihr als Evas Vorgängerin eine mögliche Erklärung für die Existenz dieser beiden Schöpfungsversionen“, so Martini. Nach Erzählungen des 13. Jahrhunderts flieht Lilith anschließend aus dem Paradies. Sie wird zur Rächerin, betört die Männer mit ihren roten Haaren und tötet sie mit Schlangengift. In einem Talmudtraktat taucht sie nach ihrer Flucht als ungezügelte, dämonische Sexpartnerin Adams auf und zeugt Geister für die Welt.
Diese Lilith faszinierte nicht nur Goethe in seinem „Faust“, sondern Generationen von Malern, Bildhauern und Schriftstellern. In unserer Zeit auch die Popkultur. Während der 1970er Jahre entdeckte der jüdische Feminismus sie als Steilvorlage für sein Vorhaben, die jüdische Tradition neu zu interpretieren. In einer viel beachteten, feministischen Midrasch-Sammlung eroberte Lilith 1998 die jüdische Exegese als selbstbestimmte Frau, die für ein befreites Leben die Sicherheit des Garten Eden verlässt. „Sie wird zu einer autonomen Figur. Damit stellt sie sozusagen die ursprüngliche Kraft und Größe der 5000 Jahre alten altorientalischen Lilith wieder her“, erklärt Martini.