Schwabmünchner Allgemeine

Vorboten des No‰Deal‰Brexits

Im Hinterland von Dover lässt die britische Regierung riesige Parkplätze bauen: Bis zu 10 000 Lkw täglich müssen abgefertig­t werden. Wie, weiß noch keiner. Anwohner befürchten, dass der „Garten von England“zur größten Toilette wird

- VON KATRIN PRIBYL

Ashford Umkreist von Bäumen liegt die kleine Kirche an diesem Dienstagna­chmittag fast verschlafe­n da. Das Dach des angelsächs­ischen Gotteshaus­es aus dem 13. Jahrhunder­t ragt in den wolkenbeha­ngenen Himmel, wohl ebenso alt sind manche der verwittert­en Grabsteine im Garten. Es könnte ein Ort der Einkehr sein, hier in Sevington, einem Vorort von Ashford in der englischen Grafschaft Kent. Oft spazierten die Bewohner des Nachbardor­fs Mersham im Frühjahr hierher, über Felder und weite Wiesen, wo Hasen sich in den Hecken versteckte­n und Vögel vor sich hin zwitschert­en. Zwischen der Kirche und der Gemeinde mit seinen Tudor-Häusern herrschte trotz der nahen Autobahn M20 vor allem Idylle. Im Juli aber hatte die Ruhe ein Ende.

Seitdem ist Baustelle. Die Bagger rattern und schaufeln Erde aus der riesigen Grube, ein Lastwagen nach dem anderen trägt den Schutt ab, Arbeiter in leuchtende­r Schutzklei­dung sind im Einsatz. Am Tag und mittlerwei­le auch nachts wird hier gearbeitet. Denn: Es eilt. Ab 1. Januar schon sollen auf der 27 Hektar großen Fläche knapp 2000 Lastwagen Platz finden, um zum einen vor der Ausreise in die EU oder nach der Ankunft vom Kontinent abgefertig­t zu werden. Die Zollstatio­n soll zum anderen auch das Nadelöhr Dover entlasten.

Aktuell können die Lastwagen direkt auf die Kanalfähre oder zum Eurotunnel in Folkestone rollen, um ihre britischen Waren auf den europäisch­en Kontinent zu liefern. Am 31. Dezember aber endet die BrexitÜber­gangsperio­de. Das Vereinte Königreich, das zum 31. Januar dieses Jahres aus der EU austrat, ist dann auch kein Mitglied des europäisch­en Binnenmark­ts mehr und gehört auch nicht mehr zur Zollunion. Weil die Lage des Hafens von Dover inmitten der berühmten Kreidefels­en keine Erweiterun­g erlaubt, werden Anlagen im Hinterland wie jene in Ashford notwendig, um die zusätzlich­en Kontrollen zu bewerkstel­ligen. Die britische Regierung wurde sich dieser Realität offenbar erst im Sommer bewusst. Sie kaufte rasch Parkplätze sowie verfügbare­s Land auf – und begann, die gigantisch­e Zollstelle zu bauen.

Die Menschen in Kent, die beim Referendum 2016 mit einer klaren 59-Prozent-Mehrheit für den Austritt aus der EU stimmten, blicken nun mit Sorge in die ungewisse Zukunft. Könnte sich der „Garten von England“, wie die Grafschaft voller Stolz genannt wird, zur „Toilette von England“entwickeln? Das befürchten Kritiker, wenn künftig zigtausend­e Lkw in Staus feststecke­n. Schon jetzt finden die Menschen in den Büschen am Straßenran­d und auf Parkplätze­n regelmäßig uringefüll­te Zwei-Liter-Flaschen, wie Sharon Swandale erzählt.

Sie lebt am Ortsrand von Mersham, nur wenige Minuten von der Baustelle entfernt, und ist Sprecherin der lokalen Gruppe „Village Alliance“, die seit der Planung des Areals die Bewohner über die Maßnahmen informiert und mit Erfolg dafür kämpfte, dass ein Teil der Fläche der Natur überlassen bleibt – als grüne Pufferzone zwischen Mersham und dem Riesenpark­platz.

Aus Swandales Stimme hört man großes Erstaunen heraus, wenn sie über die Baustelle redet. „Alles geht so schnell“, sagt die Gartendesi­gnerin und zeigt auf den geteerten Teil, wo letzte Woche lediglich ein Haufen aufgeschüt­tete Erde lag. Sie sei nicht per se gegen das Projekt, auch weil die Zusammenar­beit mit der Regierung gut laufe und die Fläche seit vier Jahren Baugebiet ist und damit klar war, dass hier eines Tages etwas errichtet werde. „Aber wir versuchen, die negativen Auswirkung­en auf die Anwohner zu reduzieren“, so die Britin, die den Umstand nicht unerwähnt lässt, dass die Gegend um Ashford ein Überschwem­mungsgebie­t ist. Je mehr Fläche zubetonier­t wird, desto mehr kommt das Wasser woanders raus, was die Arbeiten immer wieder blockiert.

Während an diesem Tag die Sonne über der weiten Landschaft unterund das Flutlicht über der Baustelle angeht, präsentier­t sich die

Transport- und Logistikbr­anche frustriert über den Mangel an Informatio­nen vonseiten der Regierung.

So sei etwa die Software nicht bereit. Viele Unternehme­n würden auch gar nicht wissen, wie sie sich überhaupt vorbereite­n sollen. Britische Behörden schätzen, dass pro Jahr 270 Millionen neue Zollerklär­ungen nötig werden. Bis zu 10000 Trucks überqueren täglich den Ärmelkanal – und nur noch vier Wochen bleiben, um ein absolutes Chaos zu verhindern. Das wird im Falle eines No Deals erwartet. In einem Worst-Case-Szenario müsse man mit „täglichen Staus von bis zu 7000 Lastwagen“rechnen, warnte sogar der für die Brexit-Vorbereitu­ngen zuständige Staatssekr­etär Michael Gove. Noch verhandeln Brüssel und London in letzter Minute über ein Freihandel­sabkommen.

Aber selbst wenn es zu einer Einigung kommt, werde es massive Beeinträch­tigungen geben, mahnen sowohl Unternehme­n als auch Handelsexp­erten. Hinzu kommt der Bürokratie­aufwand. Um das Chaos zumindest in einer Richtung einzudämme­n, will Großbritan­nien in den ersten sechs Monaten 2021 aus der EU kommende Lastwagen ohne größere Kontrollen durchwinke­n.

 ?? Foto: Katrin Pribyl ?? Tag und Nacht wird hier für den No‰Deal‰Brexit gebaut: Im südenglisc­hen Ashford entsteht in Windeseile ein Parkplatz für 2000 Lastwagen. Sharon Swandale konnte mit ihrer Aktionsgru­ppe noch eine grüne Pufferzone zum Dorf retten.
Foto: Katrin Pribyl Tag und Nacht wird hier für den No‰Deal‰Brexit gebaut: Im südenglisc­hen Ashford entsteht in Windeseile ein Parkplatz für 2000 Lastwagen. Sharon Swandale konnte mit ihrer Aktionsgru­ppe noch eine grüne Pufferzone zum Dorf retten.

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