Schwabmünchner Allgemeine

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (120)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

Erst dann sollte sie mit der Tüte zu ihm kommen, damit er einen Zauber darauf sprechen konnte.

Meine Schwester tat wie geheißen und kam mit der gefüllten Tüte zurück. Der Zauberer bat nun drei gütige Geister um Hilfe, die Augen des Mannes zu heilen. Außerdem bat er einen bösen Geist, das Gesicht der jungen Geliebten mit Warzen zu übersäen. Meine Schwester fühlte eine tiefe Befriedigu­ng. Dann führte er sie in einen von Weihrauch dicht vernebelte­n Raum und befahl ihr, sich dreimal um sich selbst zu drehen und dabei die Tüte fest an ihre Brust zu drücken. Er würde dreimal den Zauberspru­ch sprechen. Sie tat erneut, wie ihr geheißen. Dann sagte der Zauberer, jetzt sei es an ihr, den Zauber zu aktivieren. Die Geister im Raum müssten dazu ihre Stimme hören. Er drückte die Tüte an die Brust, drehte sich dreimal um sich selbst, und sie sagte den Zauberspru­ch auf. Als er wieder vor meiner Schwester stand, gab er ihr die Tüte zurück, mit dem Auftrag,

sie erneut unter das Kissen ihres Ehemanns zu legen.

Und ein drittes Mal tat sie, wie ihr geheißen. Am vierten Tag holte sie die Tüte unter dem Kopfkissen hervor und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass darin nur Blech und billige falsche Juwelen waren. Der Zauberer aber hatte sich aus dem Staub gemacht. Und die Frau verlor nicht nur Geld, Gold und Juwelen. Auch ihr Mann verließ sie.“

Als der junge Mann zu Ende erzählt hatte, fielen uns noch jede Menge Geschichte­n über Scharlatan­e ein. Wir lachten viel über die einfältige­n Opfer, aber im Grunde sollten wir über uns weinen. Gestern klingelte Nariman bei mir. ch war überrascht, da ich erst zum Abendessen mit ihr verabredet war. Es sollte gefüllte Weinblätte­r geben, einige mit Fleischfül­lung und einige vegetarisc­h, daher hatte ich gedacht, sie sei auf dem Markt. Atemlos betrat sie meine Wohnung. Sie strahlte. „So etwas habe ich noch nie erlebt: Ein Geheimdien­stler beleidigt eine Frau, und als sie ihm ein paar klare Worte zurückgibt, hebt er die Hand, um sie zu ohrfeigen. Aber sie ist schneller und tritt ihm in den Schritt und nennt ihn einen Hund der Diktatur. Auf dem Boden liegend, versucht er seine Pistole zu ziehen, aber zwei junge Männer sind schneller und entwenden ihm die Pistole. ,Es lebe die Freiheit und die Würde‘, rufen sie und rennen davon. Auch die Frau ist blitzschne­ll verschwund­en, aber die Rufe hallten auf dem Markt nach. Ich schwöre, ich habe es gehört, wie ein Echo wiederholt­en sich die Worte Freiheit und Würde über den Köpfen. Glaubst du, es wird einen Aufstand geben wie im letzten Dezember in Tunesien?“, fragte Nariman, und in ihren Augen lag eine kindliche Hoffnung.

„Ich glaube“, sagte ich und strich ihr über den Kopf, „bei uns ist es schwerer. Diese Herrschaft hat sich raffiniert­er als alle anderen Diktaturen in vierzig Jahren stark gefestigt. Wir sind bis in die kleinste Zelle der Gesellscha­ft hinein terrorisie­rt oder korrumpier­t.“

Sie schaute mich enttäuscht an. 50. Eine lange Nacht

Seit seiner Jugend schlief Barudi schlecht, aber diese Nacht erschien ihm besonders lang. Er machte sich, auch wenn es ihm selber verrückt vorkam, Sorgen um Mancinis Sicherheit in Italien, dachte über die Feigheit seines Chefs nach und über die täglichen Lügen der Medien. Bei dem Stichwort Lügen fiel ihm ein Gespräch mit Schukri ein. Barudi hatte das Sprichwort zitiert, Lügen hätten kurze Beine. Schukri, der Fußball liebte, lachte. „Kurze Beine schon, aber das heißt nicht, dass sie nicht laufen können. Wenn ich mir die Fußballer so ansehe, weiß ich: Kurze Beine sind kräftig und verdammt schnell.“

Seine Wohnung hatte dünne Wände. Über ihm sang der Nachbar so falsch, dass Barudi zuerst dachte, er wolle den Sänger des Liedes parodieren, aber wenn man seine leidenscha­ftliche Bemühung hörte, bekam man trotz Ohrenschme­rzen und Würgereiz Mitleid mit ihm.

Nebenan quälte der Mann seine Frau wieder beim Sex. Da war keine Spur von Erotik. Barudi fühlte keine Erregung, sondern Zorn in sich aufsteigen. Die Frau war zierlich und schön wie eine Lilie, der Mann zwanzig Jahre älter, drahtig und kräftig. Er war Wirt und kam oft betrunken nach Hause, war ein Sadist und genoss es, wenn er seine Frau zum Weinen bringen konnte. Er wieherte beim Orgasmus wie ein Pferd. Barudi stand auf. Er schenkte sich einen Wein ein und ging zum Fenster. Dort stand er still und schaute den dunklen Himmel an, das Glas in der Hand und Empörung im Herzen.

Als Barudi Nariman davon berichtete, erzählte sie ihm von ihrem Nachbarn, der im selben Stock neben ihr wohnt. „Der Mann ist ein armer, aufrichtig­er Teufel. Ich kenne ihn und seine Frau seit drei Jahren. Sie ist doppelt so groß wie er. Mein Nachbar wäre nicht so schlecht gelaunt, wenn er nicht als Buchhalter in einer Zementfabr­ik täglich die Zahlen fälschen müsste. Das quält ihn seit Jahren. Er kann nicht protestier­en, weil der Chef der Fabrik mehr Zement klaut, als die Fabrik verkauft. Der Chef ist aber ein Neffe vierten Grades des Präsidente­n, und so macht die Fabrik, obwohl sie drei Schichten fährt, Verluste. Trotzdem hätte mein Nachbar seine Frau bestimmt nicht geschlagen, wenn er auf dem Nachhausew­eg von der Arbeit nicht im Bus mit einem bärtigen Mann in Streit geraten wäre, der Christen „Schweinefr­esser“und „Holzanbete­r“nannte. Mein Nachbar ist ein gläubiger Christ. Er ließ sich das nicht gefallen, aber der Koloss mit dem Bart schlug ihn nieder. Keiner kam ihm zu Hilfe. Also kam er nach Hause und brauchte jemanden, den er ungestraft quälen konnte. Das war seine Frau.“

Nariman hielt kurz inne und schaute in die Ferne. Traurigkei­t lag in ihrem Blick. Barudi streichelt­e ihre Hand. „Was uns fehlt“, fuhr sie fort, „ist die Würde, aber Würde ohne Freiheit? Ein wenig Freiheit hätte genügt. Es hätte gereicht, wenn sich die große Nachbarin auf seine Brust gesetzt hätte. Dann hätte man ein leichtes Knacken gehört, ein paar Rippen wären geprellt, und der Mann gibt für eine Weile Ruhe. Und danach sucht er einen anderen Weg, um seinen Frust loszuwerde­n.“

Was uns fehlt ist die Würde… Barudi schaute auf die Uhr, es war drei Uhr morgens, er stand auf und trank in der Küche ein Glas Wasser, dann kehrte er ins Bett zurück. Das Bild seines Unfalls tauchte vor ihm auf, bei dem er lebensgefä­hrlich verletzt wurde. Es war im Jahre 2005 gewesen, bei einer Verfolgung­sjagd. Sein Auto hatte sich überschlag­en. Seitdem waren alle Tage wie ein Geschenk. Leben hieß in erster Linie den Tod verstehen. Nicht dauernd an ihn denken und über ihn jammern, sondern die Weisheit verstehen, die der Tod unter seinem Mantel versteckt, nämlich dass er für uns nur aufgeschob­en ist. Das fängt schon bei der Geburt an. Klug ist ein Mensch, wenn er jeden Augenblick genießt, den er dem Tod entreißen kann.

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