Ein tödlicher Messerstich, der Fragen aufwirft
Der Tod eines 28-Jährigen an einer Haltestelle in Pfersee hat für Verunsicherung gesorgt. Warum die Polizei die Sicherheitslage in Augsburg dennoch für gut hält und wie Experten die Tat bewerten
An der Haltestelle in Pfersee brennen um die hundert Grablichter, Blumen wurden abgelegt, aus Ästen hat jemand Kreuze gebastelt. Eine Woche ist es nun her, dass hier Stefan D., 28, laut Polizeiangaben mit einem Messerstich getötet wurde. Zwei Freunde von „Dorschi“, wie der junge Mann auch genannt wurde, stehen still an dem Tatort, der zu einer Art Gedenkstätte geworden ist. Sie waren schon ein paar Mal hier. Der Tod ihres Freundes lässt sie nicht los. „Krass, wie schnell es vorbei sein kann – und vor allem wie“, sagt einer von ihnen traurig. Damit spricht er das aus, was sich viele angesichts solch einer Tat denken. Gewalttaten, die auf offener Straße passieren, bewegen die Menschen stark. Auch wegen der Frage: Könnte mir das auch passieren? Die Polizei allerdings warnt davor, sich wegen einer einzelnen Tat verunsichern zu lassen.
Jede Tat sei schlimm und eine zu viel, sagt Kriminaldirektor Ewald Weber vom Augsburger Polizeipräsidium. Er leitet die Abteilung für Verbrechensbekämpfung. Weber sagt, es müsse sich niemand Sorgen machen, wenn er in Augsburg auf öffentlichen Straßen unterwegs sei. „Die Sicherheitslage in der Stadt ist seit Jahren konstant sehr gut“, erklärt er. Es gebe keine Orte in Augsburg, um die man besser einen Bogen machen sollte, sogenannte „Nogo-Areas“. Auch auf Plätzen wie dem Helmut-Haller-Platz vor dem Oberhauser Bahnhof, einem Treffpunkt der Süchtigenszene, sei das Risiko für Passanten, Opfer einer Straftat zu werden, nicht besonders groß. Wenn es im öffentlichen Raum zu Gewaltdelikten kommen, gehörten Täter und Opfer meist derselben „Szene“an. Auch die Tat von Pfersee könnte in diese Richtung gehen, vermuten die Ermittler. Eine 19-jährige Frau sitzt seit dem Wochenende in Haft, weil sie Stefan D. ein Messer in den unteren Halsbereich gestoßen haben soll.
Schaut man auf die Zahlen, so sieht man in Augsburg durchaus eine Steigerung bei Gewalttaten, die sich auf öffentlichen Straßen und Plätzen abspielen. 362 Fälle von gefährlicher oder schwerer Körperverletzung im öffentlichen Raum zählte die Augsburger Polizei im Jahr 2019. Zehn Jahre zuvor waren es erst 227 entsprechende Fälle. Binnen eines Jahrzehnts sind die Fallzahlen hier also um knapp 60
Prozent gestiegen. Zwar ist auch die Einwohnerzahl von Augsburg in der Zeit gewachsen. Alleine damit kann man den Anstieg aber nicht erklären, er lag nur bei rund zwölf Prozent. Eine eindeutige Erklärung für die gestiegenen Fallzahlen hat man auch bei der Polizei nicht. Viele Gewalttaten bringt man polizeiintern aber mit der sogenannten Partyszene in Verbindung, also mit dem Nachtleben. Auch hier sei es so, dass es in aller Regel nicht Unbeteiligte treffe. Streitigkeiten hätten nahezu immer zumindest eine kurze Vorgeschichte. Die Polizei registrierte zuletzt zwar eine Zunahme bei Körperverletzungsdelikten mit Messern, ob sich daraus ein stetiger Trend ableite, sei aber noch unklar.
Der Augsburger Wissenschaftler Stephan Christoph sagt, dass einzelne Taten die Menschen stark verunsichern könnten. „Tatsächlich haben Forschungen in der Kriminalitätsfurcht gezeigt, dass kriminelle Taten im normalen Umfeld für erhöhte Angst sorgen“, berichtet der
Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Sanktionenrecht der Universität Augsburg. Das subjektive Sicherheitsgefühl könne unter Umständen so beeinträchtigt sein, dass Menschen sich etwa mit Pfefferspray ausrüsten, bestimmte Gegenden meiden oder abends zuhause bleiben. Die Tat in Pfersee bezeichnet der Forscher allerdings als einen „krassen Einzelfall“, der höchstens zu einer kurzen Verunsicherung in der Allgemeinheit führe.
Für den Wissenschaftler ist es ungewöhnlich, dass es offenbar eine junge Frau war, die mit dem Messer auf den 28-Jährigen losging und in den Halsbereich stach. Wie berichtet, sitzt die 19-Jährige seitdem in Untersuchungshaft. Erwin Schletterer sieht das ähnlich wie der Forscher. Als Leiter des Vereins „Die Brücke“arbeitet Schletterer mit jungen Straffälligen. Er kann dabei auf eine Erfahrung von über 30 Jahren zurückblicken. „Es ist auf jeden Fall nach wie vor untypisch, dass junge Menschen bewaffnet herumlaufen“, meint Schletterer, der sich mit seinen Mitarbeitern nicht nur um Straffällige kümmert, sondern auch Konflikttraining für Jugendliche anbietet. Er selbst will über die Tat, der offenbar ein kurzer Streit zwischen dem Opfer, der 19-Jährigen und deren Begleiter vorausgegangen war, nicht spekulieren. Aber er weiß, dass dieser Fall auch seine jungen Klienten in den nächsten Tagen beschäftigen wird. „So traurig es ist, aber solche Fälle nutzen wir für unsere Präventionsarbeit mit den Jugendlichen.“Nur zu gut erinnert er sich an die Betroffenheit der jungen Menschen nach dem tödlichen Schlag am Königsplatz im vergangenen Jahr. „Einige sagten damals, sie seien erschrocken, da auch sie schon mal einen Schlag ausgeteilt haben.“
Trotz der brutalen Tat sieht Schletterer keinen Grund zur Sorge für die Öffentlichkeit. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass Gewalt im öffentlichen Raum, die von Jugendlichen begangen wird, meist innerhalb ihrer Altersgruppe passierten. „Wenn man Jugendliche an einer Haltestelle sieht, muss man nicht davon ausgehen, dass sie Messer oder etwas anderes bei sich tragen.“Allerdings, so Schletterer, habe es in den 90er-Jahren in Augsburg eine Phase gegeben, in der der Besitz von Messern bei jungen Menschen angesagt war. Bis es zu einem schlimmen Ereignis kam. Im März 1998, in einer Straßenbahn, waren ein 18- und ein 21-Jähriger in Streit geraten. Sie stiegen an der Haltstelle Barfüßerbrücke aus, es kam zu einer Rangelei. Dabei zückte der 21-Jährige einen Dolch. Der Stich traf den Jüngeren ins Herz, er starb. Der Fall „Loli“, so hieß das Opfer, sorgte für Entsetzen. Über 30 Jahre sind vergangen. Mit der Tat in Pfersee hat dieses Thema wieder traurige Aktualität erlangt. Nach der Bluttat damals, erinnert sich Schletterer, hätten die Jugendlichen das Interesse an Klappmessern verloren.