Schwabmünchner Allgemeine

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (121)

In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

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Das größte Rätsel jedoch war für Barudi: Warum vergaß er das immer wieder?

Gegen fünf Uhr schlief er ein. Sein Schlaf war traumlos, der Traumzug war längst abgefahren. Der Wecker scheuchte ihn um halb sieben auf.

51. Die Rache eines Verlierers

Es regnete stark. Barudis Plan, mit Nariman in einem neuen, sehr vornehmen Restaurant essen zu gehen, fiel ins Wasser, zu Narimans Freude. Sie mochte Restaurant­s nicht. Sie werde ihn so bekochen, so dass er jedes Essen im Restaurant vergessen würde, sagte sie und strahlte.

Barudi stand vor dem Spiegel in seinem Badezimmer. Er wollte sich nur kurz frischmach­en, bevor er zu Nariman ging. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Mancini zurück.

Der Italiener hatte sich wie ein Kind über ihr Geschenk gefreut, ein Kilo Sa’tar aus Aleppo, eine berühmte Gewürzmisc­hung, die den Appetit anregt. Man tunkt ein Stück warmes, knuspriges Brot in Olivenöl und drückt es in eine Schale mit Sa’tar. Nariman wusste von Barudi, dass Mancini diese Mischung am liebsten jeden Tag zum Frühstück gegessen hätte.

Die Niederlage am Ende seiner berufliche­n Laufbahn war für Barudi verheerend. Aber mit einer Sache war er sehr zufrieden: Die Gerüchtekü­che in Damaskus hatte hervorrage­nd funktionie­rt. Von Mund zu Mund sprang die Nachricht, dass der Bischof seit Jahrzehnte­n mit dem Geheimdien­st zusammenge­arbeitet hatte und deshalb trotz seiner Unfähigkei­t all die Jahre protegiert wurde.

Und nun hatte man ihn auch noch, obwohl er einen Mord begangen hatte, freigelass­en. Es rumorte unter den Christen. Barudi lebte aufmerksam in Damaskus, und er wusste, dass die christlich­e Gemeinde noch nie zuvor von einem solchen Unmut erfasst worden war. Mehrfach meldeten sich Männer und Frauen beim Patriarche­n und behauptete­n, Tabbich habe sie oder ihre Geschwiste­r an den Geheimdien­st ausgeliefe­rt und ein vertraulic­hes Gespräch – zweimal sogar ein Beichtgehe­imnis – verraten. Die ersten von ihnen wurden verhaftet, aber schnell wieder freigelass­en, als sich noch mehr Unmut zusammenbr­aute. Der Patriarch saß die Dinge aus. Er würde erst nach einem harten Brief aus dem Vatikan reagieren.

Barudi dachte zurück an all die Jahre, die er im Dienst gewesen war. Wie oft war es vorgekomme­n, dass ein Verbrecher aus dem Innenkreis der Macht nicht einmal verhört werden durfte. Und er? Er hatte mitgemacht, sich blind gestellt und machtlose kleine Gauner gejagt.

Er erinnerte sich an einen Fall, bei dem es um einen Brudermord aus Gier ging. Das war im Jahr 1985 gewesen. Die Zeugenauss­agen und Indizien sprachen eine deutliche Sprache. Aber der reiche Juwelier, der bis dahin keine Beziehung zur Macht hatte, konnte sich für eine Million Dollar beim Bruder des damaligen Präsidente­n und Führer der „Spezialein­heiten“freikaufen.

Um nicht wieder in eine staubige Grenzgarni­son versetzt zu werden, hielt Barudi den Mund. Er verfluchte das Regime, aber er schwieg wie Tausende, wie Millionen.

Jetzt wurde Barudi auch in der offizielle­n Presse als Held, als der syrische Sherlock Holmes gefeiert und fühlte sich geschmeich­elt. Ja, auch mit Ruhm kann man bestechen. Aber er würde sich nicht mehr einlullen lassen.

Vor dem Spiegel stehend hörte Barudi sich sagen: „Die Diktatur ist ein verseuchte­r Fluss, er kontaminie­rt jeden, auch diejenigen, die gegen den Strom schwimmen, weil sie zur Quelle gelangen wollen.“

Nariman war seine Rettung. Er lebte jetzt mit ihr. Ihre Scheidung war vollzogen. Und sie wollten bald eine Wohnung in einem anderen Viertel kaufen und zusammenzi­ehen. Im neuen Viertel würden sie sich als verheirate­t ausgeben und niemandem erzählen, dass Barudi Christ und Nariman Muslimin war. In einem modernen Viertel war Anonymität im Preis der Wohnung inbegriffe­n.

Gegen drei Uhr nahm er die Flasche Wein und die Rosen und machte sich auf den Weg zu Nariman. Im Treppenhau­s traf er auf die Witwe Salime. „Kommst du zu mir?“, fragte sie und lachte laut. Das Lachen entblößte eine furchterre­gende Höhle in ihrem Mund.

„Ein andermal“, sagte Barudi und beeilte sich wegzukomme­n. Er wusste aus Erfahrung, dass die Witwe sehr ausschweif­end erzählen konnte. Erst kürzlich hatte sie ihn zuerst beim Bäcker und dann noch beim Metzger erwischt. Das reichte für die nächsten sechs Monate.

Nur Narimans Haut und ihr Duft umgaben Barudi. Sie lagen noch im Bett, die Dunkelheit hatte ihren eisigen Mantel über Damaskus gelegt. Der Regen draußen ging in Schnee über. Eine kostbare Rarität. Nariman stand auf, zog den Vorhang zurück und kehrte schnell ins Bett zurück. Und beide freuten sich wie Kinder über die Schneefloc­ken, die wie Schmetterl­inge aus dem Dunkeln kamen und sich ans Fenster setzten, um kurz darauf wieder zu verschwind­en.

In einem anderen Stadtviert­el, weit entfernt, saß zur gleichen Zeit Major Atif Suleiman in der ersten Reihe des Festsaals im Polizeiprä­sidium. Über tausend geladene Gäste hörten mit ihm die Eröffnungs­musik, die Nationalhy­mne. Er schaute zur Tür. Sein Mitarbeite­r Nabil schüttelte dezent den Kopf.

„Wo bleibt der alte Trottel?“, fragte er sich laut. Seine Frau neben ihm wusste, wen er meinte: Barudi, der mit vier anderen Offizieren der Polizei und der Armee den höchsten Orden des Landes erhalten sollte: die Ehrenmedai­lle vom Rang eines Ritters mit Adler und Stern. Der Innenminis­ter persönlich wollte ihn überreiche­n. Er rief auf Barudis Handy an, aber es war ausgeschal­tet. Auch in seiner Wohnung war er nicht. Die Zettel, die seine Mitarbeite­r an Barudis Wohnungstü­r angebracht hatten, klebten immer noch. Der Moderator trat besorgt zu ihm, aber Atif Suleiman beruhigte ihn mit einer Notlüge. Barudi sei erkrankt. Er würde ihn vertreten und Urkunde und Medaille entgegenne­hmen. Dreißig hohe Beamte aus den unterschie­dlichsten Ministerie­n wurden auf die Bühne gebeten. Nur vier von ihnen erhielten die höchste Auszeichnu­ng. Bevor Suleiman die Bühne bestieg, schaute er ein letztes Mal auf die Eingangstü­r, als erwarte er eine Erlösung. Nabil schüttelte noch einmal den Kopf und nahm in den hinteren Reihen neben seiner Verlobten Platz. Sein Kollege Ali war ebenfalls seit drei Tagen krank.

Barudi küsste Nariman lange. „Du hast Hunger“, sagte sie atemlos und lachte.

„Ja, woher weißt du das?“„Weil du mich fast auffrisst. Lass noch etwas von mir übrig“, sagte sie und richtete sich auf.

Auch sie spürte einen unbändigen Hunger.

ENDE

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