Schwabmünchner Allgemeine

Das lange Schweigen der Opfer

Immer wieder wurden Kinder, die in den 1960er-Jahren in einem Heim bei Augsburg untergebra­cht waren, von Geistliche­n missbrauch­t. Schläge waren an der Tagesordnu­ng. Die Kirche will die Vorfälle aufklären. Was bleibt, sind die quälenden Erinnerung­en der Be

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Fischach Es begann 1967. Peter W. war elf Jahre alt. Der Pfarrer fragte ihn, ob er nicht ministrier­en wolle. Der Bub ging darauf ein. Er ahnte nicht, dass er damit die Tür zur Hölle aufstoßen würde. Jahrelang missbrauch­te ihn der Pfarrer im Kinderheim in Reitenbuch im Landkreis Augsburg.

Die katholisch­e Kirche lässt seit Anfang des Jahres das düstere Kapitel aufarbeite­n. Nach und nach kommen immer mehr Missbrauch­sfälle ans Licht. Inzwischen haben sich fast 50 mögliche Opfer und Zeitzeugen bei der eingesetzt­en Expertengr­uppe gemeldet. Deren Mitglieder dokumentie­ren die sexuelle und seelische Gewalt. Die Leiterin der Kommission, Elisabeth Mette, stellt vor Abschluss der Aufklärung klar: „Es handelt sich offenbar um ein strukturel­les System. Diese Dinge müssen ganz ungeschönt ans Licht.“Die Kommission stellt zudem fest: Viele der missbrauch­ten Kinder sind lebenslang Opfer. Wie Peter W., der aus Scham seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will.

Die Erinnerung­en an seine Zeit in Reitenbuch, einem Ortsteil von Fischach, verfolgen ihn bis heute. Keine Nacht vergeht, in der er vor zwei Uhr zum Schlafen kommt. Dann schreckt er auf, schweißgeb­adet. Da sind sie wieder, die Bilder seiner Kindheit. Er wird sie nicht mehr los. Nach 40 Jahren kann er zum ersten Mal beschreibe­n, was damals passiert ist. Er wurde von einem Pfarrer immer wieder vergewalti­gt. Ein Martyrium, das sich bis zu zweimal in der Woche abspielte.

Peter war ein ruhiges Kind. Nach den Hausaufgab­en durfte er mit den anderen aus dem Heim nach draußen zum Spielen. Peter kam am

Haus des Pfarrers vorbei. Der Ruhestands­geistliche spendierte eine Limo, die es im Heim damals nicht gab. Auch mit Schokolade und Bonbons baute er Vertrauen auf.

Dann kam das Angebot, am Ministrant­enunterric­ht teilzunehm­en. Doch die „Übungsstun­den“hatten nichts mit der Vorbereitu­ng auf den Kirchendie­nst zu tun. Peter musste sich ausziehen, sich auf den Schoß des Pfarrers setzen und ihn streicheln. „Er hat dann gesagt, ich müsste keine Angst haben, das sei nichts Schlimmes“, erinnert sich Peter W. Doch es wurde schlimmer. „Ich bin dann für mindestens eine halbe Stunde aufs Klo gegangen und habe nur noch geweint und zwanghaft meine Hände gewaschen. Es hat mich so gegraust.“Einmal habe er sich vor Ekel erbrechen müssen. Der Pfarrer habe ihn dann geohrfeigt und ihm befohlen, das Erbrochene aufzuwisch­en.

Auch Hans-Peter Riesinger wurde als Schüler im Josefsheim geprügelt. Nach einer Ohrfeige blutete er einmal aus dem Ohr. Das Trommelfel­l war gerissen. „Gewaltstra­fen waren im Heim an der Tagesordnu­ng“, erinnert er sich. Im Unterricht seien alle Schüler von der ersten bis zur achten Klasse geschlagen worden – mit Haselnussr­uten, die die Kinder selbst im Wald schneiden mussten. „Man hatte immer Angst, einen Fehler zu machen.“

Riesinger erinnert sich auch an vier Schulkamer­aden, die nachts ausgerisse­n waren. Doch die Polizei griff sie auf und brachte sie zurück. Nach einer Tracht Prügel seien ihnen zur Strafe die Haare komplett geschoren worden. Riesinger: „Sie hatten schneeweiß­e Köpfe. Mir wurde beim Anblick speiübel.“

Im Bienenhäus­chen hätten die Buben zur „Sexualkund­e“antreten müssen. Doch was dort ein Angestellt­er des Heims veranstalt­ete, war kein Unterricht. Riesinger: „Wir mussten schwören, dass wir nichts sagen. So konnte der Missbrauch jahrelang stattfinde­n, ohne dass er bemerkt wurde. Wir durften nie

mals Nein sagen.“Auch Peter W. konnte sich niemandem offenbaren. Zu seinen Eltern hatte er keinen Kontakt. Peter berichtete stattdesse­n einer Schwester, die für seine Gruppe im Josefsheim verantwort­lich war, von den Übergriffe­n. Die junge Frau schlug ihn. Denn: Was nicht sein darf, könne nicht sein.

Als Peter Wochen später wieder berichtete, was der Pfarrer treibt, habe sie mit einem Handbesen auf sein nacktes Hinterteil eingedrosc­hen. Die Dillinger Franziskan­erinnen hatten damals das Heim geleitet. 1999 gaben sie die Leitung ab. Ob die Übergriffe jemals gemeldet wurden oder bis zum damaligen Augsburger Bischof drangen, ist

bekannt. Wurde jemals ein kirchenrec­htliches Verfahren eröffnet, das für die Geistliche­n Konsequenz­en hatte? Oder wurden die Straftaten verschwieg­en? Antworten soll der Bericht der Aufklärung­skommissio­n geben, der frühestens Mitte nächsten Jahres zu erwarten ist.

Bis zu seinem 15. Geburtstag ging Peter W. durch die Hölle. Er blutete, weinte, schrie – dann habe ihm der Pfarrer den Mund zugehalten. In der Schule wurde er zusehends schlechter. Peter hörte mit dem Ministrier­en auf. Mit 16 begann er eine Ausbildung. „Da hatte ich endlich Ruhe.“Tatsächlic­h aber nur Abstand vom Ruhestands­geistliche­n.

Denn mit der Arbeit verdrängte er das, was ihn innerlich aufwühlte. Und mit der Zeit zerfraß.

Peter W. konnte keine normale Beziehung mehr eingehen, hatte Angst vor körperlich­en Kontakten, berichtet er. Sogar eine einfache Umarmung habe ihm zu schaffen gemacht. Die wenigen Beziehunge­n zu Frauen, die er aufbaute, gingen schnell wieder in die Brüche. „Ich dachte, dass ich beziehungs­unfähig bin.“Nachts kamen dann die Bilder wieder. Peter W. litt an Schlaflosi­gkeit und an Albträumen. „Ich bildete mir ein, dass ich an allem schuld sei.“Einmal wollte er auf einer Heimfahrt von einer Freundin sein Auto gegen einen Baum lenken. Penicht

ter W. stürzte sich in noch mehr Arbeit, um zu vergessen. Dann kam der Zusammenbr­uch.

Mit 44 Jahren ein leichter Herzinfark­t, eine Operation, dann Aufenthalt­e in Kliniken. 2016 – nach mehr als 40 Jahren – vertraute er sich einer Psychologi­n an. Er sagte, dass er sich schmutzig und schuldig fühle. Weil er nach dem Infarkt nicht mehr voll arbeiten konnte, beantragte Peter W. eine Erwerbsmin­derungsren­te. 2016 wurde er als schwerbehi­ndert anerkannt. Heute bleiben ihm unter dem Strich 200 Euro zum Leben. Kurz bevor die Geschäfte schließen, kauft er sich vergünstig­tes Essen. Danach verkriecht er sich wieder in seiner Wohnung. Aus

Scham. Und aus Angst, dass er im Alter völlig verarmt. Peter W. hofft jetzt auf die Hilfe der Kirche.

Er fordert, dass sie angemessen entschädig­t und den Lohn ersetzt, der ihm in der Zeit zwischen seinem Infarkt und dem eigentlich­en Rentenbegi­nn verloren gegangen ist. Mit 65 will er wieder eine vernünftig­e Rente beziehen.

Hans-Peter Riesinger geht es nicht ums Geld. Er möchte, dass die Opfer wahrgenomm­en und gehört werden. Auch diejenigen, die traumatisi­ert wurden und sich das Leben genommen haben. In vielen Gesprächen hat er die Erlebnisse im Josefsheim im Kreis Augsburg geschilder­t. Es habe für ihn damals auch „die Rettung“bedeutet. Denn als Kleinkind sei er von seiner Mutter und deren Partnern missbrauch­t und misshandel­t worden. „Wenn das so weitergega­ngen wäre, wäre ich vermutlich gestorben.“

Nach den Jahren im Heim führte ihn sein Lebensweg nach Augsburg. Als junger Erwachsene­r musste er viel arbeiten – für wenig Lohn. Später engagierte er sich als Reiseleite­r, in einer Brauerei, einer Sennerei, einer Gärtnerei oder auch in einer Druckerei. Die meiste Zeit seines Lebens war er aber Pädagoge und Inhaber einer Textilfirm­a. Nach dem Verkauf seines Unternehme­ns in Ostdeutsch­land zog er nach Innsbruck. Dort lebt er in einem grauen Wohnblock. Nichts Besonderes, bis auf einen Balkon – der führt zur Wohnung des Mannes und war 20 Jahre in der Tiroler Landeshaup­tstadt ein begehrtes Fotomotiv.

Hans-Peter Riesinger hatte ihn auffallend geschmückt. Der Balkon war vor Weihnachte­n ein Lichtermee­r mit Engeln, Girlanden und Glöckchen. Im Oktober 2019 wurde ihm nach einem Rechtsstre­it mit einem

Peter bekam eine Limo. Dann musste er sich ausziehen

Das Fenster zum Balkon war für ihn ein Fenster ins Leben

anderen Wohnungsei­gentümer verboten, den Balkon zu schmücken. Seitdem geht es dem Mann mit den kurzen, braunen Haaren wieder schlechter. Er kämpft mit Angststöru­ngen und Magenbesch­werden, hat auch wieder Suizidgeda­nken. „Das Fenster zum Balkon war für mich ein Fenster ins Leben“, sagt er.

Seine Erinnerung­en an Reitenbuch hat er aufgeschri­eben und der Expertenko­mmission übergeben. „Blitzlicht­er“nennt er seine Erinnerung­sfetzen, die plötzlich im Gespräch kommen und dann präsent sind. Hans-Peter Riesinger hat dann alles haargenau wieder vor Augen.

Den Mut, sich anderen mitzuteile­n, hätten Opfer oft erst als Erwachsene, weiß die Augsburger Opferanwäl­tin Marion Zech. Sich offenbaren könnten viele erst, wenn sie fühlten, dass sie als Opfer gehört und ernst genommen werden, erklärt Helgard van Hüllen vom Weißen Ring. Die Juristin aus Oberbayern ist seit 2012 stellvertr­etende Bundesvors­itzende der Opferorgan­isation und frühere Vizepräsid­entin der europäisch­en Dachorgani­sation für Opferhilfe. Sie sagt: „Es ist wichtig, dass Opfer mit Respekt und Anerkennun­g wahrgenomm­en werden.“Es bestehe kein Zweifel daran, dass Opfer ihre belastende­n Erinnerung­en „bewusst oder unbewusst in sich verkapseln und beiseitesc­hieben, um überhaupt leben zu können“.

Helgard van Hüllen erinnert an viele Frauen, die im Zweiten Weltkrieg vergewalti­gt wurden. Über ihrem Leben habe ein Nebel gelegen, der sich erst später wieder auflöste.

Bei Peter W. waren es mehr als 40 Jahre, bis der Nebel wieder verschwand. Die Gespräche über die Vorfälle in den 1960er- und 1970erJahr­en beim zwischenze­itlich verstorben­en Pfarrer sind eine Befreiung für ihn. „Mir geht es jetzt besser“, sagt Peter W. Er hofft: „Vielleicht können jetzt auch andere Opfer den Mut aufbringen, ihr langes Schweigen zu brechen.“

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Im Kinderheim in Reitenbuch, einem Ortsteil von Fischach im Kreis Augsburg, sollen über Jahrzehnte Kinder körperlich und seelisch missbrauch­t worden sein. Eine Kommis‰ sion der katholisch­en Kirche will die Vorfälle jetzt aufklären.
Foto: Marcus Merk Im Kinderheim in Reitenbuch, einem Ortsteil von Fischach im Kreis Augsburg, sollen über Jahrzehnte Kinder körperlich und seelisch missbrauch­t worden sein. Eine Kommis‰ sion der katholisch­en Kirche will die Vorfälle jetzt aufklären.

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