Tödlicher Grenzschutz
Gegen die europäische Einheit Frontex werden schwere Vorwürfe erhoben. Drängen EU-Beamte Flüchtlingsboote zurück aufs offene Meer? Auch Griechenland und Türkei in der Kritik
Brüssel Der Bundesaußenminister wählte deutliche Worte. „Deutschland hat sich in den vergangenen Monaten außerordentlich darum bemüht, einen Weg zu finden, wie man den Dialog mit der Türkei forcieren kann“, sagte der SPD-Politiker Heiko Maas vor einem Treffen mit seinen europäischen Amtskollegen. Bedauerlicherweise sei es aufgrund von Spannungen zwischen der Türkei, Zypern und Griechenland aber nicht dazu gekommen.
Wenige Tage vor dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Union, bei dem über Sanktionen gegen Ankara entschieden werden soll, ging es vor allem um die türkischen Probebohrungen nach Gas in der Ägäis. Dabei gäbe es einen möglicherweise noch wichtigeren Grund, die Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdogan frontal anzugehen: die Zustände auf den Fluchtrouten im Mittelmeer.
Der griechische Migrationsminister hat sich per Brief bei der EUKommission beschwert. Darin heißt es: „Nach Aussagen von Migranten kam ein Schiff der türkischen Küstenwache bei ihrem Boot an. Aber anstatt wie angefordert Hilfe anzubieten, verursachte es hohe Wellen und trieb das kleine Schiff in Richtung der griechischen Marine-Einheiten im Mittelmeer.“Bei der Aktion kamen zwei Migranten ums Leben. Recherchen internationaler Hilfswerke und Journalisten-Netzwerke belegen, dass solche sogenannte „Pushbacks“keine Einzelfälle sind – und dass die Europäer offenbar selbst an solchen Aktionen beteiligt sind. Ist das der Grund für das Schweigen Brüssels?
Seit März hält die türkische Marine
Flüchtlinge nicht mehr auf, sondern versucht, sie offenbar gezielt in die Hoheitsgewässer Griechenlands zu treiben. Die Athener Regierung aber hat eine „aggressive Überwachung“angeordnet: Flüchtlingsboote sollten auf jeden Fall gestoppt und zurückgeschleppt werden.
Im Innenausschuss des Europäischen Parlamentes wurden in der Vorwoche diverse Bild- und Tondokumente vorgeführt, die genau das belegen sollen. In sechs Fällen, so die Vorwürfe, seien aber auch Mitarbeiter der EU-Grenzschutzbehörde Fronte an „Pushbacks“beteiligt gewesen. Mehrfach habe die Agentur Kenntnis von in Seenot geratenen Flüchtlingsschiffen gehabt, aber nicht geholfen. In einem Fall sei sogar ein Luftaufklärer über die Migranten hinweggeflogen, ohne einzugreifen.
Frontex-Chef Fabrice Leggeri steht wegen solcher Zwischenfälle schon seit Monaten in der Kritik. In einem Bericht, den EU-Innenkommissarin Ylva Johansson als Dienstherrin von Frontex angefordert hatte, wies Leggeri alle Beschuldigungen gegen seine Beamten zurück. Es handele sich um „Missverständnisse“. Das Flugzeug, das angeblich ein Flüchtlingsboot überflogen und nicht reagiert haben soll, sei an dem genannten Tag gar nicht in der Luft gewesen. Glaubwürdig nannten die Volksvertreter diese Schilderungen nicht, weil einige Berichte auch von Fischern vor Ort und sogar Frontex-Mitarbeitern bestätigt wurden, denen das Vorgehen der eigenen Behörde Gewissensbisse bereitet.
Die Sozialdemokraten im Innenausschuss hatten denn auch in der Vorwoche genug von Leggeris Versuchen, bei „Pushbacks weggeschaut oder sogar mitgemacht zu haben“, wie es in einer Erklärung der zuständigen Expertin der SPD-Europafraktion, Birgit Sippel, hieß. Leggeri habe zu viele Fragen offengelassen. „Es wird deutlich, dass der Frontex-Direktor in vielen seiner Verantwortlichkeiten gescheitert ist und als Konsequenz für sein Handeln zurücktreten sollte.“