Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (1)
Wenn man eine zu schwere Aufgabe zu verrichten gehabt hat, gelingt es einem nicht, die Gedanken davon abzuwenden. Sie meint, sie gehe jetzt wieder bei den Verworfenen umher.“
„So geht es einem manchmal auch bei einer Arbeit, die man allzusehr geliebt hat,“warf die Hauptmännin der Heilsarmee leise ein.
Die um das Bett Versammelten sahen jetzt, wie sich die Oberlippe der Kranken kräuselte, wie ihre Brauen zuckten und sich zusammenzogen, so daß sich die senkrechte Falte zwischen ihnen immer mehr vertiefte, und alle drei waren ganz darauf gefaßt, daß die Kranke im nächsten Augenblick die Augen öffnen würde, und daß sie von einem zornflammenden Blick getroffen werden würden.
„Sie sieht aus wie ein Engel des Gerichts,“sagte die Heilsarmeehauptmännin in begeistertem Ton.
„Was können sie denn gerade heute da draußen vorhaben?“fragte Schwester Maria, die Mitarbeiterin
der Kranken, indem sie sich zwischen den beiden anderen am Bett Stehenden durchdrängte, so daß sie der Sterbenden beruhigend über die Stirne streichen konnte.
„Du brauchst dich nicht mehr um sie zu bekümmern, Schwester Edith,“fuhr sie fort und strich ihr noch einmal zärtlich über die Stirn. „Liebe Schwester Edith, du hast genug für sie getan.“
Diese Worte schienen die Kraft zu haben, die Kranke von dem im Geiste geschauten Auftritte, der sie offenbar festgehalten hatte, abzulenken. Die Spannung, die hochgradige zornige Erregung wich aus ihren Zügen, und der sanfte leidende Ausdruck, den ihr Gesicht während der Krankheit beständig getragen hatte, kehrte zurück.
Sie öffnete die Augen, und als sie das Gesicht ihrer Mitschwester über sich gebeugt sah, legte sie dieser die Hand auf den Arm und suchte sie näher zu sich heranzuziehen.
Schwester Maria konnte kaum ahnen, was diese leichte Berührung bedeuten sollte, aber sie verstand den flehenden Ausdruck in den Augen der Kranken, und so beugte sie sich dicht zu den Lippen der Kranken herab.
„David Holm!“flüsterte die Sterbende.
Schwester Maria schüttelte den Kopf; sie war nicht ganz sicher, ob sie recht gehört hatte.
Da strengte sich die Kranke aufs äußerste an, um sich verständlich zu machen, und sie sprach nun die Worte ganz langsam mit einer kleinen Pause zwischen jeder Silbe aus. „Laß Da–vid – Holm – ho–len!“Dabei hielt sie die Augen unverwandt auf die Freundin gerichtet, bis sie sicher war, daß diese sie verstanden hatte. Dann legte sie sich wieder zurück, wie um zu ruhen; und schon nach ein paar Minuten war ihr Geist wieder fortgewandert, und sie war nun offenbar bei einem verhaßten Auftritt gegenwärtig, der ihre Seele mit Zorn und Angst erfüllte.
Die Heilsarmeeschwester richtete sich aus ihrer vorgebeugten Stellung auf. Jetzt weinte sie nicht mehr, sie war von einer Gemütsbewegung ergriffen, die mächtiger war als die Tränen.
„Schwester Edith will, daß wir David Holm holen lassen,“sagte sie.
Aber mit diesem Wunsche schien die Kranke etwas ganz Entsetzliches begehrt zu haben. Die große grobknochige Hauptmännin wurde nun ebenso erregt wie die anwesende Freundin.
„David Holm!“wiederholte sie. „Das ist doch wohl nicht möglich! Zu einer Sterbenden kann man David Holm nicht kommen lassen.“
Die Mutter der Kranken hatte bisher still am Bett gesessen und hatte auch gut gesehen, wie sich in dem Gesicht ihrer Tochter die entrüstete Richtermiene Bahn brach. Jetzt wendete sie sich an die beiden ratlosen Frauen und fragte, was es gebe.
„Schwester Edith verlangt, daß wir David Holm herbeiholen,“klärte sie die Hauptmännin auf. „Aber wir wissen nicht, ob das angeht.“
„David Holm?“fragte die Mutter der Kranken in unsicherem Ton. „Wer ist David Holm?“
„Es ist einer von denen, die Schwester Edith in ihrem Bezirk sehr viel Not und Arbeit gemacht haben, und um den sie sich besonders bemüht hat; aber der Herr hat sie keine Macht über ihn gewinnen lassen“
„Ach, Hauptmännin, vielleicht ist es Gottes Absicht, gerade jetzt in diesen letzten Stunden durch sie zu wirken!“sagte Schwester Maria zögernd.
Doch die Mutter sah die Freundin ihrer Tochter unfreundlich an und sagte: „Ihr habt ja meine Tochter so lange gehabt, als noch ein Funke von Leben in ihr war. Darum könntet ihr sie wenigstens jetzt, wo es zum Sterben geht, mir überlassen.“
Damit war die Sache entschieden, und Schwester Maria nahm ihren vorigen Platz am Fußende des Bettes wieder ein. Die Hauptmännin ließ sich wieder auf dem kleinen Stuhl nieder, schloß die Augen und versank in ein leise gemurmeltes Gebet.
Ab und zu drang ein etwas lauteres Wort an das Ohr der andern, und sie verstanden, daß die Hauptmännin Gott bat, die Seele der jungen Schwester in Frieden von dieser Welt abscheiden zu lassen, ohne daß sie noch von den Pflichten und Sorgen, die der Welt der Prüfungen angehörten, gequält würde.
Als die Heilsarmeeoffizierin so im Gebet versunken dasaß, wurde sie plötzlich aus ihrer Andacht gerissen, weil ihr die junge Heilsarmeeschwester die Hand auf die Schulter legte. Sie schaute hastig auf und sah, daß die Kranke noch einmal zum Bewußtsein gekommen war. Aber jetzt sah sie nicht mehr so freundlich und demütig aus wie zuvor. Etwas drohend Düsteres lag auf ihrer Stirne. Die junge Schwester beugte sich rasch über die Sterbende und hörte nun ganz deutlich die vorwurfsvolle Frage: „Schwester Maria, warum hast du David Holm nicht holen lassen?“Höchst wahrscheinlich war die Freundin auf dem Punkt, Einwendungen zu machen, aber in den Augen der Kranken stand ein Ausdruck, der sie zum Schweigen zwang.
„Ich werde ihn zu Schwester Edith holen,“sagte sie dann, und sich wie entschuldigend an die Mutter wendend, fuhr sie fort: „Ich habe Edith nie etwas abschlagen können, wenn sie mit einer Bitte zu mir kam, und ich kann es auch heute nicht.“
Da schloß die Kranke die Augen mit einem Seufzer der Erleichterung, und die junge Heilsarmeeschwester verließ die kleine Kammer, in der nun dieselbe Stille herrschte wie zuvor. Die Heilsarmeehauptmännin verharrte angsterfüllt in stillem Gebet. Die Brust der Sterbenden arbeitete immer härter, und die Mutter rückte näher an das Bett heran, wie um einen Versuch zu machen, ihr armes Kind vor Qualen und dem Tod zu beschützen.
Nach einer kleinen Weile schaute die Kranke wieder auf. Ihr Gesicht trug noch immer denselben ungeduldigen Ausdruck; aber als sie den Platz, wo die Freundin gestanden hatte, leer sah und also begriff, daß ihr Wunsch auf dem Wege der Erfüllung war, brach sich in ihren Zügen ein weicherer Ausdruck Bahn.
»2. Fortsetzung folgt