Wie die Krise Kinderheime herausfordert
Die St. Gregor Jugendhilfe wurde im Frühjahr von dem Virus kalt erwischt. Mittlerweile hat sich in den Wohngruppen vieles eingespielt, doch einige Probleme bleiben
Die Wurzeln der St. Gregor-Kinder-, Jugend- und Familienhilfe reichen ins Jahr 1572 zurück. Damals kümmerte sie sich mit ihrem Waisenhaus um elternlose Kinder. Heute steht die Einrichtung vor anderen Herausforderungen. Sie unterstützt junge Menschen und ihre Familien, wenn sie mit ihren Problemen nicht mehr alleine zurechtkommen – sei es mit Beratung, in einer heilpädagogischen Tagesstätte, in der Schule oder in einer Wohngruppe. 85 Mädchen und Jungen vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsenen leben derzeit in zwölf unterschiedlichen Gruppen in Augsburg und dem Umland.
Seit fast einem Dreivierteljahr sind sie, ihre Betreuer und ihre Ursprungsfamilien einer zusätzlichen Herausforderung ausgesetzt – der Corona-Krise. Los ging es im März mit dem ersten Lockdown. „Die Situation, plötzlich eingesperrt zu sein und nicht zu wissen, was man darf oder nicht, hat uns alle kalt erwischt“, gibt Regionalleiter Michael Ender zu. Denn anders als Außenstehende vielleicht vermuten, haben die Kinder und Jugendlichen im Heim dem Alter und den persönlichen Umständen entsprechend durchaus ihre Freiheiten.
Der 14-jährige Stefan zog genau zu Beginn der Corona-Pandemie in die „Schildbürger“-Wohngruppe in Inningen ein. Dem Realschüler machen die Beschränkungen wenig aus. „Ich bin mit meinen Büchern glücklich und lese auch jetzt wieder viele Romane. Schade finde ich nur, dass mein Schwimmtraining im Verein ausfällt.“Stefan glaubt sogar, dass Corona ihm das Eingewöhnen in sein Zweitzuhause erleichtert hat. „Ich habe die anderen besser kennenlernen können.“Ähnliches hat Michael Ender von mehreren Seiten gehört. „Uns in der Wohngruppe geht es ja noch ganz gut. Wir haben wenigstens uns und müssen nicht alleine zuhause sein“, lautet die Aussage eines anderen Jugendlichen.
Freilich will der Sozialpädagoge die Pandemie nicht in rosigen Farben malen, denn nicht alle kommen mit der Situation klar. Da gibt es den Elfjährigen, der mit der Maskenpflicht im Unterricht hadert und Angst vor einem Verweis hat, wenn er sie abnehmen würde. Ein anderer Junge findet es „blöd, dass ich meine Freunde nicht besuchen darf“. Barbara Holl aus der Mädchenwohngruppe Mona Lisa erzählt von einer jungen Frau, die die Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr so mitgenommen haben, dass sie nur noch die Wand anstarrte. „Sie war frisch verliebt und durfte ihren Freund nicht sehen.“Auch Kathrin Huber, Heilpädagogin bei den Schildbürgern, hat in den vergangenen Monaten das eine oder andere Drama erlebt. Etwa, als die lang ersehnte Geburtstagsfeier eines 16-Jährigen wegen Corona ins Wasser fiel. Generell stellt die Betreuerin ihren Jungs ein gutes Zeugnis aus. Sie seien „vernünftig und kollegial“.
Mit ganz anderen Schützlingen hat es Teresa Rothenberger zu tun. Die Pädagogin betreut in der Nestgruppe Mädchen und Buben im Kindergartenalter und merkt immer wieder, wie schwer der Ausnahmezustand für die Kleinen zu fassen ist. Wie soll eine Dreijährige begreifen, dass Kuscheln in diesen Zeiten nicht angebracht ist oder Quarantäne bedeutet, dass sie ihr Zimmer nicht verlassen darf? Dass das beliebte „Corona-Fangelespielen“auszubleiben hat und das Lächeln der Bezugsperson hinter einer Maske verschwindet? Rothenberger sorgt sich um ihre Kinder. „Was macht das mit ihrem Weltbild?
Gleichwohl nehmen sie und die anderen pädagogischen Kräfte die Pandemie nicht auf die leichte Schulter. Auch die St. Gregor-Jugendhilfe ist vor Verdachtsfällen und positiven Mitarbeitern und Bewohnern nicht verschont geblieben. Etliche Wohngruppen haben Testund Quarantäneerfahrungen gesammelt, etwa nachdem sich in der Klasse eines Kindes ein Mitschüler infiziert hatte. Nicht nur den Betreuern, sondern auch den Jugendlichen sind Begriffe wie Kontaktperson 1 oder 2 geläufig. Um die Gefahr einer möglichen Ansteckung zu verringern, tragen die Pädagogen in den Wohngruppen auch außerhalb der Quarantäne einen Mund-Nasen-Schutz.
Lockdown und Quarantäne bedeuten für die Kinder und Jugendlichen, dass Heimfahrten zu den Eltern ausfallen mussten und müssen. Gleiches gilt, wenn in der Ursprungsfamilie ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht. Gerade in der ersten Zeit sei die fehlende Schutzausrüstung das Hauptproblem gewesen, betont Regionalleiter Ender. Die meisten Eltern hätten jedoch Verständnis für die Restriktionen gezeigt. „Wo immer es möglich war, haben wir Kontakte im Freien oder in entsprechenden Räumlichkeiten ermöglicht.“
Nach draußen lassen sich die Begegnungen in der Adventszeit nicht mehr so leicht verlegen. Dennoch haben sich die Wohngruppen teilweise ganz im Sinne des neuerlichen leichten Lockdowns Beschränkungen auferlegt. So verzichten die „Schildbürger“derzeit freiwillig auf Heimfahrten, um dafür Weihnachten mit ihren Familien feiern zu können. Stefan hat seine Eltern zuletzt in den Herbstferien gesehen. „Dafür telefonieren wir alle paar Tage.“Die freie Zeit hat Kathrin Huber mit ihren Jungs genutzt, um zu basteln und die Räume zu dekorieren. Der Mangel an üblichen Freizeitbeschäftigungen habe neue Aktivitäten hervorgebracht, hat sie festgestellt. Der Medienkonsum hingegen sei weniger angestiegen als befürchtet. Heilpädagogin Huber scheint sich fast ein wenig darüber zu wundern.
Ihre Kollegin Barbara Holl freut sich, dass sie mit ihren Mädchen nach den Feiertagen ein paar Tage verreisen darf – in eines der Ferienhäuser der Jugendhilfe. „Das ist für uns als feste Gruppe trotz Corona möglich.“Gleichzeitig ist der Sozialpädagogin bewusst, dass derartige Freuden nicht die Schattenseiten der aktuellen Krise aufwiegen können. Etwa die wirtschaftlichen Nöte vieler Familien durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und fehlende Rücklagen. So manches Mädchen sei heulend aus dem Wochenende zuhause in ihre Wohngruppe zurückgekehrt.