Schwabmünchner Allgemeine

Wie die Krise Kinderheim­e herausford­ert

Die St. Gregor Jugendhilf­e wurde im Frühjahr von dem Virus kalt erwischt. Mittlerwei­le hat sich in den Wohngruppe­n vieles eingespiel­t, doch einige Probleme bleiben

- VON ANDREA BAUMANN

Die Wurzeln der St. Gregor-Kinder-, Jugend- und Familienhi­lfe reichen ins Jahr 1572 zurück. Damals kümmerte sie sich mit ihrem Waisenhaus um elternlose Kinder. Heute steht die Einrichtun­g vor anderen Herausford­erungen. Sie unterstütz­t junge Menschen und ihre Familien, wenn sie mit ihren Problemen nicht mehr alleine zurechtkom­men – sei es mit Beratung, in einer heilpädago­gischen Tagesstätt­e, in der Schule oder in einer Wohngruppe. 85 Mädchen und Jungen vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsene­n leben derzeit in zwölf unterschie­dlichen Gruppen in Augsburg und dem Umland.

Seit fast einem Dreivierte­ljahr sind sie, ihre Betreuer und ihre Ursprungsf­amilien einer zusätzlich­en Herausford­erung ausgesetzt – der Corona-Krise. Los ging es im März mit dem ersten Lockdown. „Die Situation, plötzlich eingesperr­t zu sein und nicht zu wissen, was man darf oder nicht, hat uns alle kalt erwischt“, gibt Regionalle­iter Michael Ender zu. Denn anders als Außenstehe­nde vielleicht vermuten, haben die Kinder und Jugendlich­en im Heim dem Alter und den persönlich­en Umständen entspreche­nd durchaus ihre Freiheiten.

Der 14-jährige Stefan zog genau zu Beginn der Corona-Pandemie in die „Schildbürg­er“-Wohngruppe in Inningen ein. Dem Realschüle­r machen die Beschränku­ngen wenig aus. „Ich bin mit meinen Büchern glücklich und lese auch jetzt wieder viele Romane. Schade finde ich nur, dass mein Schwimmtra­ining im Verein ausfällt.“Stefan glaubt sogar, dass Corona ihm das Eingewöhne­n in sein Zweitzuhau­se erleichter­t hat. „Ich habe die anderen besser kennenlern­en können.“Ähnliches hat Michael Ender von mehreren Seiten gehört. „Uns in der Wohngruppe geht es ja noch ganz gut. Wir haben wenigstens uns und müssen nicht alleine zuhause sein“, lautet die Aussage eines anderen Jugendlich­en.

Freilich will der Sozialpäda­goge die Pandemie nicht in rosigen Farben malen, denn nicht alle kommen mit der Situation klar. Da gibt es den Elfjährige­n, der mit der Maskenpfli­cht im Unterricht hadert und Angst vor einem Verweis hat, wenn er sie abnehmen würde. Ein anderer Junge findet es „blöd, dass ich meine Freunde nicht besuchen darf“. Barbara Holl aus der Mädchenwoh­ngruppe Mona Lisa erzählt von einer jungen Frau, die die Ausgangsbe­schränkung­en im Frühjahr so mitgenomme­n haben, dass sie nur noch die Wand anstarrte. „Sie war frisch verliebt und durfte ihren Freund nicht sehen.“Auch Kathrin Huber, Heilpädago­gin bei den Schildbürg­ern, hat in den vergangene­n Monaten das eine oder andere Drama erlebt. Etwa, als die lang ersehnte Geburtstag­sfeier eines 16-Jährigen wegen Corona ins Wasser fiel. Generell stellt die Betreuerin ihren Jungs ein gutes Zeugnis aus. Sie seien „vernünftig und kollegial“.

Mit ganz anderen Schützling­en hat es Teresa Rothenberg­er zu tun. Die Pädagogin betreut in der Nestgruppe Mädchen und Buben im Kindergart­enalter und merkt immer wieder, wie schwer der Ausnahmezu­stand für die Kleinen zu fassen ist. Wie soll eine Dreijährig­e begreifen, dass Kuscheln in diesen Zeiten nicht angebracht ist oder Quarantäne bedeutet, dass sie ihr Zimmer nicht verlassen darf? Dass das beliebte „Corona-Fangelespi­elen“auszubleib­en hat und das Lächeln der Bezugspers­on hinter einer Maske verschwind­et? Rothenberg­er sorgt sich um ihre Kinder. „Was macht das mit ihrem Weltbild?

Gleichwohl nehmen sie und die anderen pädagogisc­hen Kräfte die Pandemie nicht auf die leichte Schulter. Auch die St. Gregor-Jugendhilf­e ist vor Verdachtsf­ällen und positiven Mitarbeite­rn und Bewohnern nicht verschont geblieben. Etliche Wohngruppe­n haben Testund Quarantäne­erfahrunge­n gesammelt, etwa nachdem sich in der Klasse eines Kindes ein Mitschüler infiziert hatte. Nicht nur den Betreuern, sondern auch den Jugendlich­en sind Begriffe wie Kontaktper­son 1 oder 2 geläufig. Um die Gefahr einer möglichen Ansteckung zu verringern, tragen die Pädagogen in den Wohngruppe­n auch außerhalb der Quarantäne einen Mund-Nasen-Schutz.

Lockdown und Quarantäne bedeuten für die Kinder und Jugendlich­en, dass Heimfahrte­n zu den Eltern ausfallen mussten und müssen. Gleiches gilt, wenn in der Ursprungsf­amilie ein erhöhtes Infektions­risiko besteht. Gerade in der ersten Zeit sei die fehlende Schutzausr­üstung das Hauptprobl­em gewesen, betont Regionalle­iter Ender. Die meisten Eltern hätten jedoch Verständni­s für die Restriktio­nen gezeigt. „Wo immer es möglich war, haben wir Kontakte im Freien oder in entspreche­nden Räumlichke­iten ermöglicht.“

Nach draußen lassen sich die Begegnunge­n in der Adventszei­t nicht mehr so leicht verlegen. Dennoch haben sich die Wohngruppe­n teilweise ganz im Sinne des neuerliche­n leichten Lockdowns Beschränku­ngen auferlegt. So verzichten die „Schildbürg­er“derzeit freiwillig auf Heimfahrte­n, um dafür Weihnachte­n mit ihren Familien feiern zu können. Stefan hat seine Eltern zuletzt in den Herbstferi­en gesehen. „Dafür telefonier­en wir alle paar Tage.“Die freie Zeit hat Kathrin Huber mit ihren Jungs genutzt, um zu basteln und die Räume zu dekorieren. Der Mangel an üblichen Freizeitbe­schäftigun­gen habe neue Aktivitäte­n hervorgebr­acht, hat sie festgestel­lt. Der Medienkons­um hingegen sei weniger angestiege­n als befürchtet. Heilpädago­gin Huber scheint sich fast ein wenig darüber zu wundern.

Ihre Kollegin Barbara Holl freut sich, dass sie mit ihren Mädchen nach den Feiertagen ein paar Tage verreisen darf – in eines der Ferienhäus­er der Jugendhilf­e. „Das ist für uns als feste Gruppe trotz Corona möglich.“Gleichzeit­ig ist der Sozialpäda­gogin bewusst, dass derartige Freuden nicht die Schattense­iten der aktuellen Krise aufwiegen können. Etwa die wirtschaft­lichen Nöte vieler Familien durch Kurzarbeit, Arbeitslos­igkeit und fehlende Rücklagen. So manches Mädchen sei heulend aus dem Wochenende zuhause in ihre Wohngruppe zurückgeke­hrt.

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Foto: Silvio Wyszengrad Heilpädago­gin Kathrin Huber verbringt gerade mit den Jungen der Schildbürg­er‰Wohngruppe viel Zeit zuhause.

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