Schwabmünchner Allgemeine

Mann tötet 15‰Jährigen: War es ein Ehrenmord?

Ein 30-jähriger Afghane hat im April in einer Asylunterk­unft ein Blutbad angerichte­t und seinen 15-jährigen Schwager getötet. Die Anklage wirft ihm vor, er habe das aus Rache getan – weil sich seine Frau getrennt hatte

- VON INA MARKS

Als Nabi S. den Gerichtssa­al betritt und die Fotografen auf ihre Auslöser drücken, versteckt er rasch sein Gesicht hinter Unterlagen. Seit Montag steht der 30 Jahre alte Afghane vor dem Landgerich­t. Der Vater eines kleinen Sohnes muss sich wegen Mordes an seinem 15 Jahre alten Schwager und wegen vierfachen Mordversuc­hs verantwort­en. Der Mann soll, laut Anklage der Staatsanwa­ltschaft, vorgehabt haben, nicht nur seine afghanisch­e Ehefrau, sondern auch deren Familie zu töten. Grund war die Trennung der Frau, die in der Ehe offenbar ein Martyrium durchleide­n musste. Am 4. April dieses Jahres richtete S. in der Asyleinric­htung Haus Noah in Göggingen mit einem Messer ein Blutbad an.

Der 23 Jahre alten Frau fällt es anfangs schwer, auszusagen. Die Angst vor ihrem Mann ist offenkundi­g, er sitzt nur drei Meter entfernt auf der Anklageban­k. Ihre Anwältin Marion Zech beruhigt sie, dass auch die Polizei im Saal sei. Die Afghanin wurde mit Nabi S. verheirate­t, als sie erst zwölf Jahre alt war. Laut dem Angeklagte­n sei das in ihrem Kulturkrei­s normal. Die Eheschließ­ung fand im Iran statt, wo S. und seine Familie lebten. Beide Familien waren offenbar entfernt miteinande­r verwandt. Wie der Angeklagte (Verteidige­r: Jörg Seubert) schildert, habe sich damals seine Frau in ihn verliebt, er selbst hielt sie noch für zu jung. Doch die Ehe wurde geschlosse­n. Er habe aber noch drei bis vier Jahre mit dem Sex gewartet. Das stellt die Zeugin anders dar, für die – wie für den Angeklagte­n auch – ein Dolmetsche­r übersetzt.

Ihr Mann habe um ihre Hand angehalten. „Ich war doch noch ein Kind.“Der Angeklagte hatte ihren Eltern offenbar eine sogenannte Morgengabe von 4500 Euro für sie gezahlt. Das berichtet dieser selbst der Vorsitzend­en Richterin Sabine Konnerth. Schon sechs Monate nach der Eheschließ­ung habe sie mit dem damals 19-Jährigen schlafen müssen, so die Zeugin weiter. Ab da begann für sie offenbar die Ehe-Hölle. Immer wieder habe ihr Mann sie geschlagen. Meist mit der Hand oder Faust, aber auch mit Kabel, Gürtel oder einem Wasserschl­auch. Er soll äußerst eifersücht­ig gewesen sein.

Sogar auf einen Zehnjährig­en, mit dem sich seine Frau mal unterhielt. Die Mutter eines fünfjährig­en Sohnes berichtet von Gewalt und vielen Verboten. Als sie Asyl in Schweden suchten, habe sie keinen Sprachkurs besuchen dürfen. Später in Deutschlan­d habe er ihr den Kontakt zu anderen Frauen untersagt.

Nabi S. hingegen bezeichnet vor Gericht die Beziehung zu seiner Frau als gut. Doch auch die Anklage der Staatsanwa­ltschaft hört sich anders an. „Der Angeklagte war von Beginn der Beziehung an von unbegründe­ter Eifersucht getrieben“, sagt Staatsanwa­lt Michael Nißl. Im November 2019 eskalierte die Situation. In der gemeinsame­n Wohnung bei Starnberg kam es mal wieder zum Streit. Dabei soll der Angeklagte seiner Frau mit dem Tod gedroht haben. Auch der eintreffen­den Polizei gegenüber soll er sich aggressiv verhalten haben.

Nach diesem Vorfall verließ die 23-Jährige mit dem gemeinsame­n Kind ihren Mann. Rachegelüs­te und eine hasserfüll­te Wut müssen sich in dem Verlassene­n aufgebaut haben. Er soll den Entschluss gefasst haben, seine Frau, deren zwei Schwestern, den 15 Jahre alten Bruder und die Schwiegere­ltern zu töten. Dabei setzte er der Anklage zufolge Prioritäte­n. Neben der Tötung seiner Ehefrau soll ihm vor allem der Tod der Schwiegerm­utter und des 15-jährigen Bruders wichtig gewesen sein. Der Schwiegerm­utter gab er wohl die Schuld an der Trennung.

Das Motiv, den Jugendlich­en zu töten, war ungleich perfider. Laut Anklage wusste der 30-Jährige, dass nach den Wertvorste­llungen der Familie seiner Frau der Teenager als einziger Sohn eine besondere Bedeutung hatte. Er soll kalkuliert haben, falls es ihm nicht gelänge, alle Familienmi­tglieder zu vernichten, zumindest den 15-Jährigen umzubringe­n. „Damit konnte und wollte er das Leben etwaiger überlebend­er Geschädigt­er mit emotionale­m Schmerz füllen und deren Leben wenigstens unerträgli­ch gestalten“, wirft Staatsanwa­lt Nißl ihm vor.

Mit einem 21,5 Zentimeter langen Küchenmess­er im Rucksack suchte der Mann an jenem Apriltag die Familie, die im Haus Noah in Göggingen lebte, auf. Seine Frau hielt sich mit dem Sohn in einer Nachbarwoh­nung auf, als ihr Mann das Blutbad anrichtete.

Erst stach er, der Anklage zufolge, auf die Mutter ein – sie wurde in einer Notoperati­on gerettet- dann auf die weiteren Familienmi­tglieder. Als er offenbar dabei war, bei dem Vater einen tödlichen Halsschnit­t anzusetzen, kam der 15-jährige Junge aus einem Zimmer, er hatte zuvor geschlafen. Der Angeklagte soll ihm das Messer mehrfach in den Rücken gerammt und ihm einen doppelten Halsschnit­t zugefügt haben. Der Junge starb vor Ort. Als die 23-Jährige diesen traumatisc­hen Tag schildert, weint sie. Auch Nabi S. bricht in Tränen aus. Er schlägt sich die Hände vors Gesicht, fängt sich schnell wieder. Er wirkt zusehends unruhiger, unterbrich­t kurze Zeit später aufgebrach­t die Schilderun­gen seiner Frau. Mehrere Stimmen im Gerichtssa­al schreien ihn regelrecht an: „Ruhe!“

Der Angeklagte legt am ersten Verhandlun­gstag ein Teilgestän­dnis ab. In einer Erklärung lässt er mitteilen, dass er den Tod des Jungen bedauere. Demnach räumt er ein, für den Tod des 15-Jährigen und die Verletzung­en der anderen Familienmi­tglieder verantwort­lich zu sein. Allerdings schilderte er das Geschehen so, dass die Verletzung­en aus einem Tumult heraus entstanden seien. Er habe niemanden töten wollen. Nach der Tat soll er noch versucht haben, zu seiner Frau in die Nachbarwoh­nung einzudring­en. Er scheiterte. Die 23-Jährige erinnert sich, wie er vor dem Fenster stand. „Er sagte kaltblütig, er habe meinen Bruder getötet.“Sechs weitere Verhandlun­gstage folgen.

 ?? Foto: Stefan Puchner ?? In einem Asylbewerb­erheim in Göggingen wurde im April ein 15‰Jähriger ermordet. Nun steht der Schwager des Getöteten vor dem Landgerich­t Augsburg.
Foto: Stefan Puchner In einem Asylbewerb­erheim in Göggingen wurde im April ein 15‰Jähriger ermordet. Nun steht der Schwager des Getöteten vor dem Landgerich­t Augsburg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany